Leitgedanke

"I have never seen a sound"
Murray Schafer (1990)

Alles Wachsen, so lautet die These, sei ein Hören, ein Er-Horchen der Welt, der Sprache, der Wörter, der Klänge. Aber wie geht dies vor sich, wie hört der Mensch, wie er-hört er die Welt, so dass sie hineingelangt in ihn - und durch die eigene Sprache wieder heraus? Und wie - zum Beispiel - hört einer, der nicht "richtig" hört? Was erfährt ein Hörgeschädigter von der akustischen Erscheinung, die ihn umgibt?
Wie, was und warum hört der Mensch? Welche Bedeutung hat es, dass das Ohr nicht nur hört, sondern selber Töne macht? Wie kommt es, dass ein Deutscher andere Frequenzen spricht und hört als ein Italiener - dass es mehr Tenöre aus Italien und mehr Baritöne aus England gibt?
Wir sprechen, was wir hören... Das Ohr ist das erste Organ, das entsteht. Und es ist das letzte, das stirbt: Kaum sieben Millimeter groß ist der menschliche Embryo, wenn sich das Innenohr auszubilden beginnt: Es ist das erste Organ, das der Mensch erstellt, und es entsteht gleich in seiner vollen Größe, in seiner endgültigen Gestalt, die ein Leben lang nicht mehr wächst. Das Innenohr ist das empfindsamste Organ des menschlichen Systems. Nirgends sonst verfügt der menschliche Körper über eine ähnliche Konzentration von Nervenzellen. Nicht einmal die primären Geschlechtsorgane sind mit ähnlicher Feinfühligkeit ausgestattet.

"Was wir sehen, wird weitgehend bestimmt durch das was wir hören."
William S. Burroughs

Wie sehr das Hören ein Sehen ist - wie untrennbar die Sinne der optischen und akustischen Wahrnehmung miteinander verknüpft sind - zeigt die Alltagserfahrung der Fernseh-, Film- und Hörspielrezeption in Deutlichkeit: Das Ohr ist das Organ der Imagination, es liefert uns - in einer Buntheit und Lebendigkeit wie es das reale Bild nicht kann - jene Vorstellungen, die den Film "zum Laufen" bringen, das Hörspiel zum Leben, die Musik zum Tanzen. Wie langweilig wäre ein Film, der alles Zeigbare vor Augen führt? Je mehr "Leerstellen" ein Film aufweist, desto lebendiger, gespannter, farbenreicher wird die innere Vorstellung, desto "phantastischer" erscheint das Bild, das wir zu "sehen" meinen, während wir es in Wahrheit nur "hören".

"Das Auge führt den Menschen in die Welt, das Ohr führt die Welt in den Menschen ein."
Lorenz Oken (1779-1851)

Das Ohr ist das Instrument der inneren Welt-Erfahrung. Seine Bedeutung ist wenig bekannt, seine Funktion auch in der Wissenschaft bis heute nicht vollends geklärt. Nicht erst die Einführung der visuellen Massenmedien, die mit zunehmender Präsenz unseren gesellschaftlichen Alltag prägen, hat dem Auge zur Vormacht verholfen. In ihren Ursprüngen ist es die klassische abendländische Philosophie, die den "Glauben" an die Phänomene des Sichtbaren allem Hören überordnete - und das Hören zu einer sekundären Erscheinung der Weltwahrnehmung reduzierte.
Das Gehör ist vernachlässigt. Seine Gesundheit wird durch Missbrauch und Missachtung in einer (auch volkswirtschaftlich bedrohlichen Weise) seit Jahrzehnten gefährdet: Mehr als 15 Prozent aller jugendlichen Berufsanfänger haben (durch nicht reglementierten Hörkonsum) bereits eine Hörschädigung, die sonst nur ein Lärmarbeiter nach etwa zehnjähriger Berufstätigkeit am Lärmarbeitsplatz (Presslufthammer, Walzwerk, etc.) aufweist. Wäre Lärm mit Gestank verbunden - niemand würde sich ihm freiwillig aussetzen.

Die "Schule des Hörens" will hörbar machen, was das Hören ist. Ihr Ziel ist es, akustische Welterfahrung (Hören, Hinhören, Zuhören) als Voraussetzungen gesellschaftlicher Kompetenz zu vermitteln. Ihr Ziel ist es, mit geeigneten Methoden der Schulung die Fähigkeit zu trainieren, sich auch in einer Welt der überbordenden Reize mit den eigenen Sinnen (und mit dem eigenen Willen) zu orientieren. Je lauter die Stimmen der anderen, desto schwieriger wird es, sich selbst zu hören und den eigenen Maßstab der Entscheidung zu wahren. "Die Fähigkeit des Zuhörens zu bewahren und immer wieder neu zu erfahren - das ist schwierig geworden in einer Zeit des pausenlosen Dreinredens Dritter, Vierter, Fünfter, die uns glauben machen wollen, besser zu wissen, was gut für uns ist, als wir selbst. Da hält man sich rasch die Ohren zu - mit den Kopfhörern eines Walkman zum Beispiel, die den Lärm mit Lärm bekämpfen. "Noisereductionsystems" - das sind in den USA gängige Hörsysteme, die unangenehme Geräusche der Außenwelt in angenehme elektronische Frequenzen umwandeln und den Hörer in ein akustisches Paradies zu versetzen versprechen. Kein Wort des Nachbarn dringt mehr an Ihr Ohr, kein Geräusch des Flugzeugs, in dem Sie sich befinden - alles transformiert sich in sphärischen Klang. Dies sind Zeichen einer autistischen Weltflucht, einer Flucht vor dem Zu-Viel - in ein Noch-Mehr.
(aus: Karl Karst, "Schule des Hörens. Das Ohr - Eine Erkundung")