Auditive Medien im Unterricht - Ein medienpädagogischer Orientierungsrahmen

1. Auditive Medien im "optischen Zeitalter"


"Zum Sehen geboren,
zum Schauen bestellt,
dem Turme geschworen,
gefällt mir die Welt."(Faust, II. Teil, 5. Akt)

Der Mensch ist "zum Sehen geboren", läßt Goethe den Türmer Lynceus sagen und skizziert damit eine Denkfigur, die bis in die Philosophie der Antike reicht. Der Mensch ist ein "Augenmensch", der sich die Welt durch Anschauen, Beobachten oder suchenden Blick aktiv aneignet. Unsere moderne Alltagspraxis scheint diese "optische Einstellung" (1) zu bestätigen. Kein Tag vergeht, an dem wir in unseren privaten und öffentlichen Lebensräumen nicht von stehenden und laufenden Bildern umspült werden, die aus Zeitungen, Illustrierten, dem Fernsehen, der Propaganda, der Werbung oder der Reklame stammen: "Noch niemals hat die bildliche Darstellung im Haushalt unserer Wahrnehmungen, Eindrücke, Vorstellungen, Erkenntnisse eine so große Rolle gespielt wie heute." (2)

Zwischen das Auge und die Wirklichkeit haben sich gleichsam die Bilder geschoben und sorgen nicht nur für eine eigene (mediale) Wirklichkeit, sondern auch dafür, daß wir die Wirklichkeit anders sehen, imaginieren und konstruieren können. Und seitdem Bilder mit dem Computer beliebig verändert werden können, scheint nichts mehr "richtig" wirklich, sondern vielmehr alles möglich zu sein. Zweifellos müssen wir in Zukunft mehr denn je "die Augen offen halten", um das, was wir an Vermitteltem zu sehen bekommen, kritisch zu sehen. Dazu brauchen wir - eine Trivalität - nicht nur alle unsere Sinne, sondern auch unseren Verstand. Erst im Zusammenhang von Sehen - Hören - Tasten - Riechen - Schmecken - Denken und Sprechen können wir uns die Welt aktiv aneignen. Eine Hierarchisierung der Sinne scheint dabei nicht angebracht zu sein.

"Eine Hierarchisierung der Sinne, auch eine ,positive' Mystifizierung des Ohrs, wie sie in diesen Jahren geschieht, scheint (...) nicht zu dem beizutragen, was derzeit not tut: den Zusammenhang und die Gleichwertigkeit aller unserer ,Wahrnehmungsinstrumente' in das Bewußtsein zu heben. Es tut not, erkennbar werden zu lassen, daß das Ohr ,sieht', der Mund ,riecht', die Haut ,hört', die Augen ,fühlen' - und daß keines dieser Organe weniger wichtig ist als das andere. Daß folglich auch keine Schädigung eines dieser Organe weniger ungebührlich sein kann als die Schädigung eines anderen. Daß schließlich Lärm eine ebenso große physische und psychische Bedrohung sein kann wie grelles Licht für die Augen, Spritzmittel in Speisen, Säuren auf der Haut oder giftige Gase in der Nase." (3)

In unserer gesellschaftlichen und kulturellen Praxis kann aber von der Gleichwertigkeit der Sinne nicht die Rede sein. Sonst würden wir dem "Fernsinn Hören" weitaus mehr Bedeutung beimessen, als dies tatsächlich geschieht. Wäre nämlich das Sehen ebenso durch Lärm bedroht wie das Hören (4), würden vermutlich alle gesellschaftlichen Hebel in Bewegung gesetzt, um diese Umweltbelastung weitgehend zu minimieren.

Um im Bild zu bleiben: So wie sich die technisch erzeugten Bilder zwischen Auge und Wirklichkeit geschoben haben, so haben sich die künstlich erzeugten Ton- und Klangwelten zwischen Gehör und Wirklichkeit gemischt. Die "natürlichen" Geräusche und Klänge verschwinden mit der "Industrialisierung des Hörens" mehr und mehr aus unseren Lebenswelten. Dafür dringen die künstlichen umso nachhaltiger in sie ein, sei es als Verkehrs- oder Arbeitsgeräusch in der Umwelt, als Lautsprecherdurchsage oder funktionales Musikgeriesel in Warenhäusern, als Radiosendung, musikalisches Schallplatten-, CD- oder Kassettenangebot in unseren eigenen vier Wänden. Auch wenn wir dabei das komplexe Klanggewebe, das uns wie eine Folie ständig umhüllt, als "gegeben" hinnehmen, so wenden wir uns doch gezielt den "Wohlklängen" zu, während wir jede Form von "Kakophonie" möglichst zu vermeiden suchen.

Seitdem es möglich ist, Geräusche, Töne, Sprache und Musik technisch zu erzeugen, zu manipulieren, zu speichern und massenhaft zu verbreiten, hat sich nicht nur unser Hören verändert, sondern auch die Art und Weise, wie wir Wirklichkeit wahrnehmen und in ihr handeln. Man kann dies gut an unserem Umgang mit dem Hörfunk festmachen. Diese von der Gesellschaft auf Dauer gestellte auditive Einrichtung hat einen Funktionswandel durchgemacht, der sich auch auf unsere Hörgewohnheiten ausgewirkt hat. Wer das Radio beispielsweise nach dem 2. Weltkrieg in den vierziger und fünfziger Jahren noch als "Kulturproduzenten" und Massenmedium Nr. 1 erlebte, und wer diszipliniertes Zuhören als medienpädagogisches Konzept in der Familie vermittelt bekam, bringt vielleicht wenig Verständnis für den gestaltlosen Dudelfunk unserer Tage auf, dem das "Nebenbeihören" seiner Nutzer Programm ist. Wer diesen Funktionsverlust des Radios nicht akzeptiert, hört in der Regel weg. Doch Kinder und Jugendliche, die kein anderes Radio kennengelernt haben, haben sich das Radio unserer Tage so angeeignet, wie es ist. Sie nutzen es heute in erster Linie als "Musikmedium", "mood manager" und "Ratgeber". Auch wenn wir über die Funktionen des Radios für Kinder und Jugendliche derzeit relativ wenig gesicherte Kenntnisse haben, so kann man vermuten, daß beispielsweise Jugendliche Radio vor allem hören, um sich aktiv mit eigenen Entwicklungsaufgaben auseinanderzusetzen:

Hört man etwa dieselben Programme wie die Clique, kann man "mitsprechen", hört man die "angesagten" Kultsendungen, kann man einem bestimmten Lebensstil Ausdruck geben, beteiligt man sich an Mitmach-Programmen, kann man durch (telefonische) Grußbotschaften soziale Kontakte festigen oder beteiligt man sich an einer Diskussions-Sendung, kann man sich öffentlich mit seiner (politischen) Meinung artikulieren. (5)

Auch Kinder nutzen das Radio heute in erster Linie als Musikmedium und Stimmungsmacher und kaum noch als "Geschichtenerzähler". (6) Diese Funktion, die dem Radio auch durch kontinuierlichen Abbau der anspruchsvollen Kinderprogramme allmählich abhanden gekommen ist, übernimmt heute weitgehend die Hörkassette. Sie ist nicht nur ein bedeutsamer wirtschaftlicher und akustischer Faktor, sondern auch das Kindermedium Nr. 1. Die Hörkassette ist für Kinder räumlich und zeitlich gut verfügbar und auch leicht handhabbar. Sie kann die Kommunikationsansprüche von Kindern rasch befriedigen und bietet ihnen eine "verläßliche" - weil ständig wiederholbare - und stimmungsvolle akustische Bühne an. Das Hören von Märchen-, "Funny"-, Krimi-, Action- oder Kinderliederkassetten ist für Kinder vor allem ein emotionales Erlebnis. Hörkassetten nehmen mit ihren Inhalten kindliche Wünsche und Phantasien auf und füllen mit ihren Stoffen und aufgrund ihrer Machart offensichtlich jene emotionalen Leerstellen, die sich heute mehr oder weniger im kindlichen Alltag auftun.

"Hörkassetten lassen Möglichkeiten des sozialen Rückzugs zu einem selbstgewählten Zeitpunkt. Daneben sind es situative Bedingungen, die den Umgang mit Kassetten attraktiv werden lassen. Die gemeinsame Nutzung im Freundeskreis stiftet Gesprächsanlässe, gewährleistet den Austausch von Erfahrungen und die Versicherung des gleichen Geschmacks. Die individuelle Nutzung vertreibt Langeweile (z.B. während der Schularbeiten), schafft Stimmungen (z.B. während des Lesens) oder dient dazu, ,schlechte' Gefühle zu überbrücken bzw. zu kompensieren. Was und wie ein Kind Kassetten nutzt, hängt neben den räumlichen, zeitlichen und situativen Rahmenbedingungen auch von den Medienerfahrungen und der psychosozialen Lage des Kindes ab." (7)

Die modernen auditiven Medien liefern nicht nur Stoff für die Erfahrung von Innen- und Außenwelten, sie können auch als Zeichen einer besonderen kulturellen Praxis verstanden werden. Ein Beispiel: der Walkman.
Der Umgang mit diesem portablen Kassettenabspielgerät, das Anfang der achtziger Jahre auf den Markt kam und sich ihn durch einen beispiellosen Verkaufserfolg bei Jugendlichen rasch eroberte, gilt manchen Kulturpessimisten als Symbol für die Abkapselung des (hörenden) Menschen von der Realität, für seine Vereinzelung oder Beziehungslosigkeit. Für andere Kulturkritiker verkörpert der Umgang mit dem Walkman dagegen Mobilität und Autonomie, weil er zum Beispiel die Chance bietet, den Körper zu erfahren und sich eigen-sinnig an der "Theatralisierung des Urbanen" zu beteiligen:
"Walkman-Hören grenzt nicht aus, sondern integriert, hat nichts mit geistiger Konzentration zu tun, sondern verwirrt, faßt nicht zusammen, sondern zerstreut, ist nicht zentripetal, sondern zentrifugal. Im Gegensatz zum subtraktiven Hören (z.B. im klassischen Konzert) wird die Musik beim additiven Hören mit fremden Elementen , die gewöhnlich nicht musikalisch sind, vermischt. Im Vergleich zu anderen Arten der musica mobilis oder zum Tanz-Theater der Disco-Musik ist das Walkman-Hören eng mit der Körperlichkeit des Laufens verbunden. Während die theatralischen Angelegenheiten in einer Disco schon vorausgeplant sind, und man sich nur innerhalb eines vorprogrammierten Kreislaufs bewegen kann (selbst wenn die körperlichen Bewegungen recht wild anmuten), wird durch den Walkman ein aus Musik und Körper komponiertes Amalgam in Szene gesetzt. Der Walkman-Hörer erfindet die Kunst der Koordinierung von Körper und Musik im alltäglichen Leben, um sich mit der Umgebung, in der er lebt, kurzzuschließen. ...
Durch den Walkman wird der Körper geöffnet; er wird - allerdings insgeheim - in einen Ästhetisierungs-Prozeß, in eine Theatralisierung des Urbanen einbezogen." (8)

Mit diesen Anmerkungen zu den Funktionen der auditiven Medien sollte vor allem darauf verwiesen werden, daß diese Medien ein bedeutsamer Bestandteil der Lebenspraxis von Kindern und Jugendlichen sind und daß dementsprechend aus medienpädagogischer Sicht dem Hören und seiner Kultivierung besondere Aufmerksamkeit zu schenken ist. Zweifellos "brauchen" wir das Gehör: Zum einem weil es notwendig ist, sich ein Verständnis von der Welt durch Teilhaben an Geräuschen, Tönen und Klängen zu verschaffen; zum anderen, weil wir nur über das Gehör die gesprochene Sprache - unser wichtigstes Kommunikationsmittel - aufnehmen können. Wer also in Schule und Unterricht zur Vermittlung von kommunikativer Kompetenz beitragen will, hat diese Sinneskompetenz angemessen zu beachten und zu fördern.
 

2. Auditive Medien und medienpädagogische Aufgaben in der Schule


Seit ihrem Erscheinen wurden die auditiven Medien als eine pädagogische Herausforderung und Aufgabe betrachtet. So brachte die Auseinandersetzung der Schulpädagogik mit dem Radio bereits in den frühen zwanziger Jahren den "Schulfunk" hervor. Dennoch blieben die auditiven Medien in der Folge - und man kann sagen bis auf den heutigen Tag - in Schule und Unterricht eine marginale Erscheinung. So scheint auch die schulische Praxis die "optische Einstellung" unseres Zeitalters deckungsgleich abzubilden. Ein kursorischer Blick in Curricula und Rahmenpläne macht dies schnell deutlich. Obwohl sich im Prinzip alle Gegenstände von Lehren und Lernen verbal-akustisch codieren, speichern und wiedergeben lassen, sind offensichtlich nur bestimmte Leitfächer für die auditiven Medien "zuständig". Dazu gehören vor allem das Fach Deutsch und die Fremdsprachen, die gesellschaftskundlichen Lernbereiche und Fächer und das Fach Musik. Eine systematische Integration auditiver Medien in Fächer und Lernbereiche ist nur selten auszumachen, so daß beispielsweise für das Fach Deutsch resümiert wird:

"Dem Hören wird im allgemeinen kein Eigenwert zugesprochen. Es gilt als Hilfsfunktion in mündlicher und schriftlicher Kommunikation.
Das Hören wird überwiegend in seinen konvergenten Fähigkeiten (des Wiedererkennens, der Genauigkeit) gefordert, weniger als entdeckende, sinnkonstituierende Wahrnehmungskomponente.
Das Hören wird vorrangig auf literarische oder medialvermittelte Genres ausgerichtet. Die primäre Erschließung von Klang-Umwelten wird kaum beachtet.
Das Hören wird zu wenig als ästhetisch-kritisches Vermögen geschult, solange die Literaturvermittlung durch Kassette und CD im Unterricht nicht stärker thematisiert wird." (9)
Unter systematischen Gesichtspunkten wäre es zum Beispiel sehr sinnvoll, die auditiven Medien im Kontext einer "Hörästhetik" in den Deutschunterricht zu integrieren. (10) Zum einen könnten dadurch die Schnittstellen zwischen Fach und Hörmedien ermittelt werden, zum anderen könnten dabei allgemeine medienpädagogische Prinzipien und Aufgabenbereiche sichtbar gemacht werden. Andererseits wäre es aber auch angebracht, allgemeine medienpädagogische Aufgaben in Beziehung zu den auditiven Medien zu setzen, um zu verdeutlichen an welcher Stelle und mit welchen Verfahren sich die Fächer - in bezug auf die Hörmedien - an der Vermittlung von Medienkompetenz beteiligen können. Solch ein Ansatz wird im folgenden skizziert, um allgemeine medienpädagogische Vorstellungen zu verdeutlichen und um in Umrissen einen Bezugsrahmen für die konkrete Arbeit mit auditiven Medien im Unterricht zu präsentieren.
 

Auditive Medien und medienpädagogische Aufgabenbereiche

Aufgabenbereiche  Auseinandersetzung
mit
Medienerfahrungen/
-wirkungen
Auseinandersetzung mit
Medienprodukten/
-institutionen
technischen Systemen
Aktive Medienarbeit
auditive Medien "reflexiv"  "analytisch" "produktiv"
Hörfunk
Bedeutung des Hörfunks
im Alltag
Programmpräferenzen
Konsumgewohnheiten
Sende- und
Darstellungsformen
Hörfunksprache
"Massenmedium Hörfunk"
Rundfunkpolitik
Teilnahme an der
Radiokommunikation
(Bürgerradios,
Offene Kanäle,
Lokalradios)
Hör-TexteBedeutung von
Hörkassetten im Alltag
Lieblingskassetten
Hörgewohnheiten
Hörspiele/Lyrik/Prosa/Theater
"Ratgeber"/Lehrprogramme
Bauelemente des Hörspiels
Hörkassetten im
Medienverbund
Eigenproduktion
von Hör-Texten
(z.B. Hörspiel/Feature,
Klassenradio)
Musik
(Kassette,
CD, Schallplatte)
Bedeutung von Musik im
Alltag
Lieblingsmusiken
Nutzungsmuster
Musikalische Vorbilder
Musik in den Massenmedien
Musikmedien und
Jugendkultur
Industrielle Musikproduktion
Medien als
(Musik-)Instrumente


Schlüsselbegriff der aktuellen medienpädagogischen Diskussion ist die "Medienkompetenz". Dieser Begriff meint nicht mehr und nicht weniger als die Fähigkeit eines Menschen, sich bei seiner aktiven Weltaneignung in Kommunikations- und Handlungssituationen aller Arten von Medien bedienen zu können. Der Begriff ist "offen" und sagt nicht darüber aus, wie Medienkompetenz im einzelnen aussehen kann. Vielmehr ist Medienkompetenz "als Teil der Entwicklungs- und Sozialisationsaufgaben zu begreifen, die jedes Individuum - freilich nach seinen Möglichkeiten und auf seine Weise - in einer Sozialisation zu erbringen hat." (11)

Die Schule kann der Ort sein, an dem dieser Prozeß durch Vermittlung grundlegender Kommunikationsfähigkeiten unterstützt wird. In drei zentralen Aufgabenbereichen kann die Schule in diesem komplementären Sinne Bausteine für die Vermittlung von Medienkompetenz anbieten:
bei der reflexiven Auseinandersetzung mit Medienerfahrungen und -wirkungen, bei der kritisch-analytischen Auseinandersetzung mit Medienprodukten, -institutionen und technischen Systemen und beim produktiven Umgang mit Medien aller Art.
 

Reflexiver Aspekt


Auditive Medien spielen im Lebensalltag von Kindern und Jugendlichen eine eigene, aber nach außen hin manchmal wenig sichtbare Rolle. Sie sind gut handhabbar, bedienen eine Fülle von Interessen und Bedürfnissen und schaffen Phantasien, Gefühle, Vorstellungen und Wissensbestände. Jugendradio kann zum Beispiel über die Kombination von Musik- und Wortprogrammen "Stimmungen" herstellen, Lebensstilen Ausdruck geben, soziale Kontakte festigen oder politisches Handeln bei Jugendlichen auslösen.

Hörkassetten mit beliebten Figuren wie "Benjamin Blümchen" oder "Bibi Blocksberg" liefern Kindern zum Beispiel Anregungen und Orientierungen, um sich mit "eigenen Themen" spielerisch, nachdenklich und produktiv auseinanderzusetzen. Über Musik-Medien können "Idole" Gestalt gewinnen, können Lebensgefühle und Überzeugungen ausgedrückt werden oder lassen sich "unbehagliche" Lebenssituationen überspielen.
Unter reflexivem Aspekt versucht die Medienpädagogik, durch respektvollen Erfahrungsaustausch mit Kindern und Jugendlichen, die Bedeutungen und Handlungsorientierungen der Hörmedien in deren Lebenszusammenhängen sichtbar zu machen, die Motive für einseitigen und überzogenen Medienkonsum aufzudecken sowie alternative Handlungsangebote für die Befriedigung von Kommunikationsbedürfnissen zu entwickeln.
In diese Handlungszusammenhänge können sich vor allem die literarischen und musisch-ästhetischen Lernbereiche und Fächer mit ihren sinnlich konkreten und interpretativen Ausdrucksweisen einbringen, wie szenisches Spiel, Malen, Gestalten, Schreiben oder Musizieren.
 

Analytischer Aspekt


Unter den technischen Medien gehört der Hörfunk zu den "alten" Medien, ebenso wie die Schallplatte, die sich schon seit den Anfängen des Radios für die hörfunkspezifische Programmsparte Musik als bedeutsames Zuliefermedium erwies. Das Radio hat eine Reihe von Ausdrucksformen hervorgebracht, die zur Bereicherung unserer Hörkultur beigetragen haben. Sende- und Darstellungsformen wie Nachrichten, Reportage, Interview, Kommentar oder Lesung verdanken in erster Linie dem Radio ihre Entfaltung. Vor allem das "alte" und "neue" Hörspiel und das Radio-Feature sind Gattungen, die sich nur entwickeln konnten, weil der Hörfunk existierte. Als gesellschaftliche Einrichtung hat das Massenmedium Radio - heute in öffentlicher und "privater" Trägerschaft - politische, wirtschaftliche und symbolische Funktionen übernommen, die Bedeutung für alle Lebensbereiche besitzen.

Mit dem Erscheinen des "kleinen" Speichermediums Hörkassette hat die Nutzung und Verbreitung von Hör-Texten aller Art - besonders im privaten Bereich - eine neue Qualität erhalten. Beispielsweise erschließen sich für Kinder, Jugendliche und Erwachsene literarische Stoffe heute vielfach über Hörspiel-Kassetten oder "Hör-Bücher" und nicht über schriftsprachliche Texte. Nicht selten sind Hörtexte auch als Hörspiele, Lesungen oder bloße Reproduktion von Tonspuren beliebter Film- und Fernsehprogramme in einen lukrativen Medienverbund integriert.

Besondere Bedeutung haben Musikkassette, -CD und -Schallplatte für die Entwicklung unserer Hörkultur bekommen. Von ihnen gehen nicht nur musikalische "Vorbildwirkungen" aus, sondern sie bedienen auch einen gigantischen und schwer durchschaubaren Tonträgermarkt. Aufgrund ihrer technischen Merkmale können die modernen Musikmedien in verschiedenen Kommunikationsketten auftreten und besonders im Bereich der populären musikalischen Unterhaltung zu einem wirtschaftlichen Interessenverbund zwischen industrieller Musikproduktion, Geräteindustrie, Rundfunkanstalten, Diskotheken und Programmzeitschriften führen.

Unter kritisch-analytischem Aspekt betrachtet die Medienpädagogik in der Schule die auditiven Medien als "Lehr-/Lerngegenstände". Dabei versucht sie "medienkundliche" Ziele wie Analyse- und Beurteilungskompetenz, das Durchschauen von politisch-wirtschaftlich-technischen Zusammenhängen oder den selbstbestimmten Umgang mit Medien zu vermitteln.Die Unterrichtsgegenstände lassen sich sowohl unter fachspezifischen als auch fächerübergreifenden Fragestellungen untersuchen:

# Beispielsweise könnte das Massenmedium Hörfunk im Zusammenhang mit wirtschaftlichen Konzentrationsprozessen und rundfunktechnischen Entwicklungen im Politikunterricht, in Geschichte, Wirtschaftslehre und Informationstechnischer Grundbildung analysiert werden.
# Beispielsweise ließe sich das Hörspiel sowohl unter gattungsgeschichtlicher als auch rundfunkhistorischer Perspektive in den Fächern Deutsch und Geschichte betrachten.
# Beispielsweise könnte das komplexe Thema "Musikmedien und Jugendkultur" im Musik-, Kunst-, Deutsch- und Politikunterricht behandelt werden.
 

Produktiver Aspekt


Das politisch gewollte Nebeneinander von öffentlichen und "privaten" Hörfunksendern hat zwar auf der einen Seite zur Entwicklung "dudelfunkähnlicher" Zustände geführt, hat aber auf der anderen Seite auch die Entwicklung einer besonderen Radio-Szene begünstigt. "Lokalradios", "Bürgerradios" oder "Offene Hörfunkkanäle" bieten Kindern und Jugendlichen heute gute Voraussetzungen, um sich mit eigenen Sendungen an der Radioproduktion zu beteiligen und damit das Radio zu einem Medium des öffentlichen Hörens und Sprechens zu machen. Dabei können sich auch schulische Gruppen mit eigenen Produktionen zu Wort melden und Gehör verschaffen.

Seitdem die Tonbandtechnik durch Miniaturisierung wesentlich handhabbarer geworden ist, hat auch die praktische Arbeit mit auditiven Medien im Unterricht spürbar an Bedeutung gewonnen. Die spielerische und kreative Nutzung des Tonbandgerätes/Kassettenrecorders kann eine Fülle von Hörtexten aller Art hervorbringen, wie etwa Klangexperimente, Hörspiele, Features, Reportagen, Klassen- oder Schulmagazine. Die Produkte können sowohl in einer begrenzten Öffentlichkeit (Schule, Nachbarschaft, Jugendheim) als auch in bürgernahen Radios zur Diskussion gestellt werden.
Speichermedien wie Tonbandgerät und Kassettenrecorder dienen nicht nur der Wiedergabe von Musik, sie werden auch im Unterricht zur Produktion von Musik genutzt. Nicht selten entstehen dabei durch Verwendung musikfremder Geräusche und durch elektronische Klangerzeugung (mit Equipment wie z.B. Plattenspieler, Mischpult, Synthesizer, Drummachine, Sampler, Computerprogramm) phantasie- und ausdrucksvolle Techno-Produktionen.

Unter produktivem Aspekt will die Medienpädagogik dazu beitragen, daß Kinder und Jugendliche durch aktiven Umgang mit auditiven Medien,

# ihrer Lebenspraxis Sprache geben,
# ihrer Phantasie und Kreativität Ausdruck verleihen,
# medienspezifische Kenntnisse und Fertigkeiten erwerben und
# einen "anderen" Mediengebrauch zur Gestaltung gesellschaftlicher Wirklichkeit erproben.
Der produkt- und handlungorientierte Umgang mit den Hörmedien ist nicht auf "Leitfächer" wie etwa Deutsch-, Musik- und Politikunterricht beschränkt. Im Prinzip können sich alle Arbeits-, Lernbereiche und Fächer an der produktiven Arbeit mit auditiven Medien beteiligen.
Vielfach bilden die auditiven Medien Kommunikationsketten, die sich wechselseitig bedingen: Beispielsweise benötigt der Hörfunk für sein Programm Musik und Hörtexte alle Art. Beispielsweise ist Musik häufig integraler Bestandteil von Hörspielen, die wiederum als Programmbaustein im Hörfunk auftauchen können.

Analog dazu können auch die medienpädagogischen Aufgabenbereiche in einen funktionalen Handlungszusammenhang gebracht werden. Dies soll im folgenden an Beispielen aus der Unterrichtspraxis veranschaulicht werden.


3. Beispiele aus der Unterrichtspraxis

Die beiden folgenden Beispiele lassen sich in den Schuljahren vier bis sechs realisieren und zeigen an einem exemplarischen Unterrichtsgegenstand,
# wie reflexives, analytisches und produktives Handeln mit auditiven Medien aufeinander bezogen werden können und
# wie sich dabei eine Integration von Medien- und Leseerziehung herbeiführen läßt.
Ausgangspunkt unserer unterrichtspraktischen Arbeit war die Auseinandersetzung mit dem Kinderbuchklassiker "Emil und die Detektive" im Deutschunterricht einer fünften und sechsten Berliner Grundschulklasse. Erich Kästners Buch, das 1929 erschien, ist nicht nur Kriminal-, Großstadt- und Erziehungsroman, sondern auch frühes Beispiel für die Entwicklung eines Medienverbunds. Neben der Dramatisierung des Buches - den ersten "Herrn mit dem steifen Hut" spielte Theo Lingen im Jahre 1930 - kam es bereits 1931 zur ersten Verfilmung durch Gerhard Lamprecht.
Diese Verfilmung, der andere in- und ausländische Versionen folgten, gilt als Kinderfilmklassiker und kann heute auch als Videofilm erworben werden. Ebenso ist eine qualitätsvolle Hörspielfassung des "Emils" von 1962 auf dem Tonkassettenmarkt erhältlich. (12)
Für Kinder unserer Tage ist der Umgang mit einem Medienverbund keine Besonderheit. So tauchte der "Emil" bei unseren Unterrichtsvorhaben nicht nur als Einzelmedium (Buch, Kassette oder Film), sondern auch in verschiedenen Medien-Kombinationen im Besitz von Kindern auf (z.B. Buch und Kassette, Kassette und Film oder Buch, Kassette und Film). Wir konnten uns daher bei unserer Arbeit darauf stützen, daß der "Emil-Stoff" in irgendeiner medialen Form Kindern bereits bekannt war. Es bot sich somit aus verschiedenen Gründen an, mit diesem medialen Ensemble im Unterricht zu arbeiten:
Das Kriminalhörspiel kann genutzt werden, um den Kommunikationsansprüchen der Kinder nach Spaß, Spannung und Unterhaltung gerecht zu werden und um ihnen ein fesselndes Hörerlebnis anzubieten.
Hörspiel und Film lassen sich auch verwenden, um den Vergleich mit dem Primärmedium Buch zu provozieren.
Buch, Film und Hörspiel spielen derart gekonnt mit Fiktion und Realität, daß sich bei Kindern eine "investigative Haltung" gegenüber dem Erzählstoff einstellen kann.
Kästners Kriminalgeschichte spielt an Schauplätzen, die heute noch real in Berlin existieren. Dadurch ist es möglich, Kinder zur "Spurensuche in Raum und Zeit" anzuregen und die Recherche durch produktives Handeln mit Medien aufarbeiten zu lassen.
"Da muß man eben nachlesen!"Das Hörspiel "Emil und die Detektive" (ca. 50 Min.), das Zehn- bis Zwölfjährigen "ganz schön lang" vorkommt, läßt sich in verschiedenen Unterrichtszusammenhängen verwenden. Wir haben es in einer fünften Klasse gezielt zu Beginn eines Vorhabens genutzt,
# um Vorstellungen über und Erinnerungen an den "Emil-Stoff" zu wecken und
# um durch ein emotionales Erlebnis Interesse für den Buchtext zu erzeugen.
Aufgrund ihrer inhaltlichen Kongruenzen stehen Hörspiel und Buch nicht beziehungslos nebeneinander, sondern lassen sich sinnvoll aufeinander beziehen. Beispielsweise kann das Hörspiel genutzt werden, um die Kinder affektiv anzusprechen, während das Buch dazu dienen kann, Gehörtes am Text zu überprüfen. Um die Kinder auf das gemeinsame Hörerlebnis einzustimmen, bieten wir Ihnen zunächst aus dem Primärmedium Buch Bilder an, "die zur Sprache kommen werden". Danach kommen wir gemeinsam mit der Klasse im "Hör-Kreis" zusammen und präsentieren den ersten Teil des Hörspiels (ca. 27 Min.).
In diesem Teil wird die Reise Emils von Neustadt nach Berlin erzählt, wobei der Diebstahl an Emil und das Zusammentreffen mit den "Detektiven" die dramatischen Höhepunkte bilden. Im Wechsel von längeren Erzählpassagen und szenischer Gestaltung wird die Handlung dynamisch vorangetrieben. Die Erzähltexte, die sich am Originaltext orientieren, erfordern erhöhte Aufmerksamkeit und Ausdauer. Dagegen bieten die szenischen Teile "lebendige" Unterhaltung und Spannung und regen durch "Hörbilder" die Imaginationstätigkeit an. In den ausgewogenen Wechsel von Erzählung und Spielszene ist als eigenständiges Bauelement eine längere Musik-Geräusch-Montage (ca. 1'30 Min.) eingefügt. Sie gestaltet "sprachfrei" Emils "Traum, in dem viel gerannt wird" nach und läßt das Spiel mit Phantasien und Assoziationen zu.
Nach dem Anhören der Kassette äußern sich die Kinder zunächst frei über ihre Höreindrücke und sprechen dabei verschiedene Aspekte an, wie zum Beispiel:
"Man merkt, daß sich Emil und seine Mutter sehr lieb haben!" "Der Grundeis ist ein richtiges Ekel!" "Emil hört sich an, als ob er aus Hamburg kommt!" "Die Detektive spielen ihre Rollen richtig echt!" "Das Hörspiel ist spannend gemacht!"

Bei ihrem Gespräch kommen die Kinder besonders auf den Diebstahl der 140,- Mark zu sprechen, der sowohl im Buch als auch im Hörspiel durch die Traum-Sequenz "ausgelassen" wird. Wir schlagen den Kindern an dieser Stelle vor, den Diebstahl in Form eines "lebenden Bildes", einer Pantomine, selbst darzustellen: "Was könnte während Emils Traum geschehen sein?" Von einem Mädchen kommt dazu ein ingeniöser Vorschlag: Man könnte ja - "wie in der Mini-Playback-Show" - der Pantomine die "Traummusik" des Hörspiels unterlegen. Dieser Vorschlag kommt voll bei den Jungen und Mädchen an, und es bilden sich Kleingruppen, die den Diebstahl im Zugabteil mit Fahrgästen, Emil und Herrn Grundeis (re-)konstruieren. Zum "Playback" werden die körpersprachlichen Spiellösungen schließlich im Plenum präsentiert und kritisch gewürdigt. Im Sinne reflexiven medienpädagogischen Arbeitens haben sich die Kinder so auf sinnlich-konkrete und ausdrucksstarke Weise mit einem "spannenden" Problem auseinandergesetzt und dabei eine Methode kennengelernt, um produktiv mit Phantasien und Gefühlen umzugehen.
Im nächsten Arbeitsschritt konfrontieren wir die Klasse mit der Behauptung, daß alle "Tatorte des Kriminalfalls" auch heute noch in Berlin existieren. Unsere Frage an die Gruppe: "Habt ihr darüber etwas im Hörspiel erfahren?" Es stellt sich rasch heraus, daß dazu wenig im Hörspiel zu hören war, lediglich an den "Bahnhof Zoologischer Garten", "die Straßenbahn 177" und die "Schumannstraße" können sich die Kinder erinnern. So ist es für sie klar, "daß man nur im Buch nachlesen muß, um mehr herauszukriegen."Wir verabreden daher mit der Klasse, das Buch "wie Detektive" zu lesen und im Text nach "Tatorten" zu suchen. Für diese Arbeit steht ein Klassensatz "Emil-Bücher" zur Verfügung, und die Kinder erhalten eine Woche Zeit, um sich selbständig mit dem Text zu beschäftigen. Mit Hilfe einer Leseanleitung führen wir sie in die Arbeit ein und bieten ihnen ferner einen historischen Kartenausschnitt von 1931 an, auf dem sie die ermittelten "Emil"-Schauplätze selbst markieren können.
"Das wollen wir selber sehen!"Die Mädchen und Jungen sind vom Lese-Fieber ergriffen und erlesen sich in der darauffolgenden Zeit mit beeindruckender Intensität und Lust den gesamten Text. Dabei wird "en passant" auch wieder die Traumsequenz thematisiert. Gemeinsam wird nun das Kapitel "Ein Traum, in dem viel gerannt wird" gelesen und mit der Hörspiel-Montage verglichen. Im "medienkundlichen" Sinne erarbeiten sich die Kinder durch diese Detail-Analyse folgende Erkenntnisse:
Traum im BuchTraum im Hörspielviele einzelne "verrückte" Situationen werden beschrieben,es wird nicht gesprochen,die Situationen werden wie "Bilder" aneinandergefügt,die Traummusik besteht aus Geräuschen und Klängen und hört sich wie ein fahrender Zug an,der Text ist eigenen Träumen "irgendwie" ähnlich.man kann beim Zuhören träumen.
Täglich bringen die Kinder zudem ihre "aufgespürten" und aufgezeichneten Zitate mit, vergleichen sie und bringen sie in eine chronologische Ordnung. Auf diese Weise entsteht eine vollständige Zitatensammlung, die in der Klasse veröffentlicht wird. Parallel dazu werden die Schauplätze der Handlung in einer großformatigen Kartenskizze kenntlich gemacht. Im nächsten Schritt fassen die Kinder die Arbeitsergebnisse in einer "literarischen Karte" zusammen, in der Text-, Bild- und Kartenmaterial sich gegenseitig interpretierend verarbeitet sind. Für die Kinder ist jetzt der Punkt erreicht, wo sie ihre "theoretischen" Arbeiten an der Realität überprüfen wollen.

Hier will ich nun die weitere Beschreibung dieses speziellen Unterrichtsvorhabens abbrechen und mit der Darstellung des "Unternehmens Emil" fortsetzen. Beim "Unternehmen Emil" spielten "Emil"-Buch und -Film als "zeitgeschichtliche Quellen" eine zentrale Rolle. Das Hörspiel tauchte als Medium nicht im Arbeitszusammenhang auf. Auf Grund der "historischen" Perspektive verlief das Projekt in seinem Grundzügen zwar "anders", führte die Klasse jedoch auch zur "Spurensuche vor Ort".
Das Projekt wurde mit einer sechsten Klasse realisiert, und die "originale Begegnung" mit den Schauplätzen des Emils hatte einen klar definierten Zweck. Die Gruppe wollte die Spurensicherung in einen "Hörspaziergang" umsetzen. Bei dem zuvor beschriebenen Unterrichtsvorhaben wurde der "Lokal-Termin" zu einer Wandzeitung verarbeitet, hätte aber auch ebenso gut zu einer Ton-, Video- oder Fotoproduktion führen können.

"Mit Kassettenrecorder und Kamera in eigener Sache unterwegs!"In intensiven Vorbereitungsarbeiten hatte die Klasse sieben "Tatorte" ermittelt. Für die Kinder entwickelt sich die konkrete Spurensuche nun zu einer Art journalistischem Detektivspiel. Sie verfolgen zwar keinen Dieb, aber sie verfolgen einen ernsthaften Zweck: sie sind in eigener Sache unterwegs und wollen der Wahrheit über "Emil und die Detektive" auf die Spur kommen.

In kleinen Gruppen arbeiten sich die Kinder ,"von Tatort zu Tatort" vorwärts und sichern dort alle Spuren, die sie für wichtig halten. Dabei ist ihr Interesse darauf gerichtet, möglichst auch solche Spuren zu erfassen, die sich "hören" lassen.

So werden zum Beispiel:
# "Tatorte" nicht nur mit der Kamera fixiert, sondern auch durch mündliche Beschreibungen per Kassettenrecorder,
# Wegbeschreibungen "von Tatort zu Tatort" mit Kassettenrecorder dokumentiert,
# Befragungen von Passanten, Taxifahrern, Geschäftsleuten oder Mitarbeitern von öffentlichen Einrichtungen mit einem hochwertigen Kassettenrecorder aufgezeichnet und gezielt Original-Geräusche gesammelt.
# Für alle Gruppen besteht im Laufe der zweieinhalb Kilometer langen und gut drei Stunden dauernden Expedition die Möglichkeit, mit Kamera und Kassettenrecorder "eigene" Spuren zu sichern.
Der Ortstermin ist für uns alle gleichsam zum Höhepunkt des Vorhabens geworden. Realistischerweise müssen wir damit rechnen, daß die Kinder vielleicht nur noch wenig Interesse haben werden, die Exploration für die Produktion eines Hör-Spazierganges gezielt auszuwerten. Dies ist jedoch nicht der Fall. Getragen von ihren erfolgreichen Aktivitäten, hat eine Arbeitsgruppe spontan in ihrer Freizeit durch Überspielungen von Kassettenrecorder zu Kassettenrecorder die eigene Materialsammlung in eine sinnvoll aufgebaute Hör-Dokumentation umgesetzt. Diese Eigenproduktion der Kinder bietet uns eine hervorragende Möglichkeit, um mit der gesamten Gruppe festzulegen, unter welchen Aspekten unsere Materialsammlungen "ausgeschlachtet" werden sollen.
Um der Klasse zu veranschaulichen, wie die Materialsammlung zur Herstellung eines "Manuskripts" genutzt werden kann, präsentieren wir ihnen eine Muster-Kassette für einen Hör-Spaziergang. Diese Kassette ist von uns produziert worden und liefert der Gruppe ein kurzes Hör-Beispiel dafür, welche Bau-Elemente für die eigene Tonbandproduktion genutzt werden können und wie man Sprechertext - Musik - Interviews - Original-Geräusche und Spielszenen sinnvoll miteinander verbinden kann. Ein entsprechendes Manuskript-Beispiel zeigt den Kindern die abstrakte Textgestalt. Nach der Diskussion des Hör-Beispiels organisieren sich die Kinder selbst zu kleinen Produktions-Teams, die jeweils einen der sieben "Tatorte" so bearbeiten wollen, daß man daraus ein Gesamtmanuskript verfertigen kann. Die Arbeit in den sieben Teams wird von uns aktiv begleitet. Kleine Werk-Stücke, die in den Gruppen entstanden sind, werden probehalber im Plenum veröffentlicht und diskutiert.
Die Kinder entwickeln in ihren Gruppen zunächst Rohmanuskripte, die von uns zu einem Gesamt-Manuskript zusammengefügt werden. Dieses Gesamt-Manuskript wird diskutiert, in einzelnen Teilen überarbeitet und schließlich von allen als verbindlich für die Produktion abgenommen. Danach setzt eine Phase der Spiel- und Sprechproben ein. Bezeichnend für diese Phase ist, daß alle Kinder der Klasse sich intensiv an den Proben beteiligen und bemüht sind, ihre sprecherischen und spielerischen Leistungen ständig zu verbessern. Teilweise geht der Ehrgeiz von Kindern so weit, daß sie ihre Texte auswendig lernen und ohne Manuskript sprechen. Die aufgezeichneten Sprech- und Spiel-Versuche werden im Plenum angehört und kritisch gewürdigt.

Schließlich ist es soweit: An zwei Vormittagen wird - mit jeweils einem Teil der Klasse - der Hör-Spaziergang im Tonstudio der Landesbildstelle Berlin realisiert. Unter professionellen Bedingungen nehmen die Kinder ihre Hör-Stücke auf und erfahren dabei, wie sich ihre aktive Arbeit mit Kassettenrecordern von einer technisch aufwendigen Produktion unterscheidet. Die Studio-Arbeit wird für die Kinder zu einem beeindruckenden Erlebnis und wird von ihnen als der zweite große Höhepunkt des Vorhabens empfunden.
An der Mischung und am Schnitt der Produktion sind die Kinder nicht beteiligt. Das fertige Produkt hat schließlich eine Dauer von fast 30 Minuten. In diesem Produkt ist das komplexe Spiel aus Phantasie - Wirklichkeit - Selbsttätigkeit und Reflexion gleichsam vergegenständlicht.
Das Bewußtsein dafür, einen "eigenen" Text hergestellt zu haben, motivierte die Klasse dazu, ihn einer größeren Öffentlichkeit vorzustellen. Dies geschah im Rahmen einer "Show", die das "Unternehmen Emil" selbst zum Thema hatte. In Form einer "Revue" aus Information, szenischem Spiel und Zuspiel des "Hörspazierganges" wurden die Zuschauer nicht nur gut informiert, sondern auch gut unterhalten. Der Erfolg in der eigenen Schule war groß und sprach sich herum. Bis zum Ende des Schuljahres 1996/97 wurde die "Emil-Show" für andere Schulklassen, Lehrerseminare und die interessierte Presse mehrfach wiederholt. Auf kreative und sinnfällige Weise hatten die Kinder damit auch gezeigt, worin die Möglichkeiten produktiver Arbeit mit (auditiven) Medien liegen und wie mit Hilfe von Medien das Lernen in Zusammenhängen wirkungsvoll unterstützt werden kann.
 

Anmerkungen:


(1) vgl. Pawek, K.: Das optische Zeitalter. Olten und Freiburg im Breisgau 1963, S. 15 f.

(2) Ebd., S. 15

(3) Karst, K.: Geschichte des Ohrs. In: Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland (Hg.): Welt auf tönernen Füßen. Die Töne und das Hören. Göttingen 1994, S. 46

(4) Setzt man sich längere Zeit einem Geräuschepegel über 90 Dezibel aus, können Hörschäden auftreten. Zum Vergleich: Ein Gespräch ist 60 Dezibel laut, eine Rockband erzeugt etwa 125 Dezibel. Seit einiger Zeit werden bei Jugendlichen starke Hörschäden festgestellt. Etwa 15% aller Berufsanfänger haben eine Hörschädigung durch eigenen Hörkonsum (Walkman, Disco-Lärm) erlitten, die sich nach etwa zehnjähriger Arbeit mit dem Preßlufthammer einstellt.

(5) vgl. dazu: Münch, Th./Boehnke, K.: Rundfunk sozialisationstheoretisch begreifen: Hörfunk als Entwicklungshlfe im Jugendalter. In: Rundfunk und Fernsehen. Heft 4/1996, S. 548-561

(6) vgl. dazu Klingler, W.: Die auditiven Medien im Alltag von Kindern. In: Schill, W./Baacke, D.: Kinder und Radio. Frankfurt/M. 1996, S. 19-29

(7) Rogge, J.-U.: Hören als Erlebnis. In: Schill/Baacke, a.a.O., S. 37

(8) Hosokawa, S.: Der Walkman-Effekt. In: Barck, K. u.a. (Hg.): Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik. Leipzig 1990, S. 244 f.

(9) Wermke, J.: Hören - Horchen - Lauschen. Zur Hörästhetik als Aufgabenbereich des Deutschunterrichts unter besonderer Berücksichtigung der Umweltwahrnehmung. In: Spinner K.H. (Hg.): Imaginative und emotionale Lernprozesse im Deutschunterricht. Frankfurt/M. 1995, S. 197 f.

(10) vgl. Wermke, J.: Hörästhetik als Beispiel integrierter Medienerziehung im Deutschunterricht (unveröffentlichtes Manuskript). Berlin 1996

(11) Kübler, H.-D.: Kompetenz der Kompetenz der Kompetenz... In: medien praktisch 2/1996, S. 15

© Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung der Zeitschrift "medien praktisch".
Der Originalbeitrag erschien in den Heften 1/98 und 2/98

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