Wißt ihr denn nicht, hört ihr denn nicht?


Predigt vom 15. Juni 1997, Evangelische Akademie Bad Herrenalb,
Wochenendseminar "Schule des Hörens"

Von dem Maler Caspar David Friedrich gibt es ein Skizzenblatt, auf dem mit dünnem Bleistiftstrich ein Tanne gezeichnet ist. Darunter steht, ebenfalls mit Bleistift vermerkt: 5 1/2 Stunden. Eine merkwürdige Zeitangabe! Den Schriftsteller Erhard Kästner hat dieses Blatt in seinem lesenswerten Buch "Der Aufstand der Dinge" zu folgender Überlegung veranlaßt:
"Kein Zeichner, der sein Leben lang solches Notieren in Skizzenbüchern geübt hat und die Sache gewohnt ist, kann fünfeinhalb Stunden zu so einem handgroßen Bild brauchen. Fünfeinhalb Stunden, eine Menge Zeit, um sie vor einem Baum zu verbringen; also von acht Uhr am Morgen bis mittags halb zwei, oder von zwei Uhr am Mittag bis abends halb acht Uhr. Wie soll da ein Lebenswerk fertig werden? Drängt denn die Zeit nicht? Aber was kann der Vermerk sonst bedeuten? Welche Regung, ihn anzubringen, hat ihn veranlaßt? Nur, daß dieser Zeichner solange Zeit vor dem Baum, vor dem Ding, wartete, hoffte. Hoffte? Doch offenbar, daß der Baum sich stärker zeige als er."
Sensibel bedenkt KÄSTNER in diesem Text das Gespräch, wie es zwischen dem Zeichner und seinem Gegenstand stattgefunden haben muß. Wie jedes gute Gespräch brauchte es Zeit, in diesem Fall die beträchtliche Spanne von 5 1/2 Stunden. Es ist ein Gespräch ohne Worte und doch von intensivem Hinsehen und Hinhören geprägt. Denn es dauert, zu erfassen, was der Baum zu sagen hat. Der Künstler läßt das zu. Er spitzt seine Sinne, öffnet sich, um die Botschaft des Baumes zu hören. Erst dann kann er seinen Teil zu diesem Dialog beitragen. Er zeichnet Gehörtes und Gesehenes nach, bringt es in einer Skizze zu Papier.
Dieses Gespräch, auch das ist gesagt, lebt von einer Hoffnung. Von der Hoffnung, "daß der Baum sich stärker zeige als er." Wir sprechen von einem überwältigendem Eindruck, wenn die Begegnung mit einem Menschen, einer Landschaft, einem Baum uns fasziniert und erschüttert. Unser Bild, das wir uns von unserem Gegenüber gemacht hatten, zerbricht. Es offenbart sich eine ganz andere Wirklichkeit. Plötzlich und unerwartet kommt der Mensch, die Landschaft, der Baum selbst zur Sprache. Es geschieht, daß begegnende Wirklichkeit stärker ist als wir selbst.
In religiöser Sprache heißt dies Offenbarung. Was zwischen dem Zeichner und dem Baum geschieht, weist alle Züge eines religiösen Geschehens auf: Schweigen, Versenkung, Empfang einer Botschaft. Das eigene Ich wird still und gibt seinem Gegenüber das Wort. In dieser Weise spricht der dänische Philosoph Sören Kierkegaard vom Gebet: "Ich meinte erst Beten, sei Reden. Ich lernte aber, daß Beten nicht nur Schweigen ist, sondern Hören. So ist es: Beten heißt nicht, sich selbst reden hören, beten heißt, still werden und still sein und warten, bis der Betende Gott hört."
Jedem religiösen Akt liegt ein Moment der Ekstase zu Grunde. Ekstase heißt Heraustreten, Heraustreten aus der Beschäftigung mit sich selbst. Nicht sich selbst reden hören oder - im Falle des Malers - nicht sich selbst darstellen. Sondern warten und hoffen, daß das Gegenüber zum Du wird. Sprechend, stärker als man selbst. Bis es uns seine Botschaft mitteilt.
Selten wird Gott uns direkt und unvermittelt ansprechen - wie etwa in den Berufungsgeschichten der biblischen Propheten. Eher geschieht es indirekt, so, daß Gott vermittelt durch die schönen und vielfältigen Dinge seiner Schöpfung spricht. Durch einen Baum, eine Landschaft, den nächtlichen Sternhimmel. Für den, der Ohren hat zu hören und Augen zu sehen, kann die ganze Schöpfung transparent werden für das in ihr beschlossenen Geheimnis Gottes.
Daß dies allerdings geschieht, bleibt Geschenk. Kein noch so trainierter Wille, keine noch so konzentrierte menschliche Anstrengung, keine noch so gute Absicht kann das Ereignis dieser Begegnung herbei zwingen. Mit Absicht, Anstrengung und Wille bleiben wir im Bereich menschlichen Machtstrebens. Auch Gott kann dem zum Opfer fallen. Der Name Gottes wird pervertiert, wo Menschen versuchen, sich seiner zu bemächtigen. Er verwandelt sich in eine Chimäre.
Fundamentalistische, aber auch esoterische Kreise eignen sich Gott auf je eigene, letztlich aber ähnliche Weisen an. Sie instrumentalisieren ihn für ihre Zwecke. Daß Gott begegnet, ist niemals Ergebnis menschlichen Machens. Was auf Seiten des Menschen allenfalls geschehen kann, ist das Gegenteil von allen Machenschaften. Eher ein Lassen als ein Tun: ein Leerwerden und Sichöffnen, ein Warten und Hoffen darauf, daß Gott "sich stärker zeige als wir selbst."
Wo Gott sich aber frei ereignet, wird klein, was Menschen antreibt und ängstigt. Selbst die größte aller Ängste, die Angst vor dem eigenen Tod, tritt zurück. "Herr, nun läßt du deinen Diener in Frieden fahren, denn meine Augen haben den Heiland gesehen," sagt der greise Simeon, als er im Lächeln des Jesuskindes das menschenfreundliche Antlitz Gottes entdeckt. Ein ganzes Menschenleben lang hatte er gewartet, gehofft auf den "Trost" Israels. Nun offenbart er sich ihm - völlig unerwartet - in seinem Gegenüber, einem Kind.
Die Frage nach der Zukunft der Religion ist letztlich die Frage, ob wir künftig mit oder ohne Gegenüber leben wollen. Ob wir - wie der sagenhafte Jüngling Narziß - im eigenen Spiegelbild ertrinken werden oder ob wir aus der Fixierung auf das eigene Spiegelbild rechtzeitig erwachen. Die Entwicklung unserer Gesellschaft nimmt tatsächlich immer stärker autistische Züge an. Die mit der Gentechnik gegebene Möglichkeit, uns selbst zu verdoppeln, ist dafür nur ein Symptom.
Wir sind mit technologischen Errungenschaften umstellt, die es uns erlauben, überall uns selbst zu begegnen. Was wir medial vermittelt bekommen, sind unsere eigenen Spiegelungen. Was wir in endlosen Diskussionen und Talk-Shows hören, unserer eigenes Echo. So wächst der Irrglaube, die Welt sei eine Maschine und wir ihre Programmierer.
Religion allerdings besteht darauf, daß es ein "extra nos" gibt, eine Anrede, die nicht ich selbst bin, sondern "außer mir" da ist. Sie insistiert, daß der Mensch nur im Gegenüber zu Gott zum Menschen wird. Das ist etwas grundsätzlich anderes als jene Versuche, sich der uns umgebenden Energie- und Kräftefelder zu bemächtigen, der Macht der Sterne und des Mondes, wozu man Anleitungen in den Esoterik-Abteilungen größerer Buchhandlungen erwerben kann. Wo das göttliche Gegenüber erfahren wird, das bezeugen die biblischen Quellen an vielen Stellen, geht es anders zu: da vergeht einem Menschen Hören und Sehen. Eine grundlegende Verwandlung findet statt, eine zweite Geburt geradezu, die zu einem neuen Sehen und Hören der Welt führt.
Den Grundimpuls der Religion bilden nicht ihre Dogmen und Lehrsätze, ihr Credo oder ihr Katechismus. Diese versuchen lediglich in Sprache zu fassen, was jenseits aller Sprache geschieht. Der religiöse Grundimpuls selbst ist von äußerster Dynamik. Er sprengt das menschliche Beschäftigtsein mit dem eigenen Ego, das, was Luther die "incurvatio in se ipsum" genannt hat: Die Verkrümmung des Menschen in sich selbst, den Normalzustand des Alltagsmenschen also.
Diese Sprengwirkung aber kann nur von einer Kraft freigesetzt werden, die von außen kommt. Sie wird vornehmlich über das Ohr empfangen. "Höre, Israel, der Herr ist dein Gott", lautet die Basisaussage des israelitischen Glaubensbekenntnisses. Und das zweite Testament bestätigt mit den Worten des Paulus diese Erfahrung: Der Glaube kommt aus dem Hören (Römer 10,17). Aber nicht nur der Mensch ist in dieser Beziehung als Hörender gedacht. Als Hörender und dann auch Redender bedarf er eines Gegenübers, das ihm Gehör schenkt. Auch Gott ist für menschliches Anreden offen. Er selber ist ja ein Hörender: "Der das Ohr gepflanzt hat, sollte der nicht hören?", heißt es in Psalm 94.
Nicht um ein Ego kreisende Energiefelder sind es also, derer sich der Glaube zu bemächtigen sucht. Sondern im Hören wird er selbst ergriffen durch das Wort Gottes. Nur als von außen kommendes Wort kann es Trost zusprechen und Mut, Gnade ansagen und Segen spenden, Leben verkündigen angesichts des Todes. Der Mensch hört, was er sich selbst nicht sagen könnte - vergleichbar dem Zeichner, der nach langem Warten schließlich die Botschaft des Baumes vernimmt. Oder dem greisen Simeon, der nach geduldigem Hoffen den Erlöser in seine Arme schließt.
Der Glaube, das ist das Entscheidende, empfängt die Anrede Gottes von außen - über das Hören. Nicht als Selbstresonanz menschlicher Aktivitäten oder als Projektion persönlicher Wunschvorstellungen. Sondern als Bewegung von einem Du zu einem Ich. Und umgekehrt: als "eine feste Zuversicht auf das, was man hofft, und ein Nichtzweifeln an dem, was man nicht sieht" (Hebräer 11,1).
Im Akt des Hörens begründet dieser Glaube im Hörer eine existentielle Zugehörigkeit. Wohin oder worauf ich höre, dort gehöre ich hin. Hören hat Folgen. Zwar ist die göttliche Wirklichkeit der Realität, in der wir leben, transzendent, sie ist nicht "nicht von dieser Welt". Aber sie reicht hinein in unsere Realität, und zwar akustisch. "Heute, wenn ihr seine Stimme hören werdet, so verstockt eure Herzen nicht", heißt es noch einmal im Hebräerbrief (3,7f). Diese Wirklichkeit berührt uns dort, wo eine einzige Vorleistung gegeben ist und nur diese: sich nicht abzuschließen gegen das Andere, sondern offen und empfangsbereit zu bleiben.
Wie sich im Hören Außen und Innen, Transzendenz und Immanenz vermitteln, erzählt die Berufungsgeschichte des jungen Samuel. Dreimal muß der junge Samuel in der Nacht aufstehen, um herauszufinden, wer ihn da ruft. Anfangs hält er die nächtlich erklingende Stimme für die seines greisen Lehrer und Meisters Eli. Dreimal schickt der ihn zum Schlafen zurück in seine Kammer. Als der Ruf Gottes zu dritten Mal ergeht, antwortet Samuel in die Nacht hinein, wie ihm sein Meister gesagt hatte: Rede, denn dein Knecht hört. Hören zu lernen, heißt, unterscheiden zu lernen. Mehrere Anläufe sind nötig, damit der junge Mann unter den menschlichen Stimmen den Anruf Gottes vernehmen kann. Damit er angesichts dessen, was wahrscheinlich ist, offen wird für das Mögliche.
In Zukunft wird das Amt des Propheten Samuel darin bestehen, das Gewirr der Stimmen zu ordnen. Zu unterscheiden, wer da spricht, welche Wirklichkeit sich da zu Worte meldet: die eigene Phantasie, Wünsche und Projektionen. Oder die eine Wirklichkeit, die sich als stärker erweist als alles, was er bislang über Gott und die Welt zu wissen glaubte.

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