Geschichte des Ohrs - Eine Chronologie
Vortrag von Karl Karst

Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland
(Bundeskunsthalle) Bonn, 12. Mai 1993

Internationales Symposion
Die Zukunft der Sinne.
Welt auf tönernen Füßen. Die Töne und das Hören

PROLOG

Die Geschichte des Ohrs ist eine Geschichte der Spekulation. Selbst dort, wo sie die Ergebnisse der vermeintlich exakten Wissenschaften präsentiert, zeigt sie den Charakter der Vermutung. Was wir erkennen im Laufe dieser Geschichte, das ist die Zunahme von Bezeichnungen für jene Bestandteile des menschlichen Körpers, auf die man im Zuge der anatomischen Forschung gestoßen ist.
Der sezierende, mit dem Messer analysierende Eingriff in den Körper registriert Sichtbares. Die Anatomie ist somit eine Wissenschaft des Auges. Das Auge jedoch - darüber besteht heute kein Diskussionsbedarf mehr - gehört nicht zu den weitreichendsten Wahrnehmungsinstrumenten, die uns die Natur geschenkt hat. Die Rezeptions-Kapazität des Auges rangiert im Wellenbereich zwischen 400 und 700 Nanometern, dem Spektrum des sichtbaren Lichts. Alles, was darunter liegt - Röntgen- und Gammastrahlen zum Beispiel - ist dem natürlichen Auge nicht erkennbar. Alle höheren Wellenlängen ebensowenig. In Frequenzen übertragen bedeutet dies: Das Auge erfaßt einen Bereich von etwa einer Oktave. Das Ohr indessen "hört" zehn.
Trotz dieser Diskrepanz ist es bis heute das Auge, dem die Fähigkeit zugesprochen wird, über das Ohr zu befinden. Das Auge, sagt Johann Gottfried Herder, sei der "Außen-", das Ohr dagegen der "Innenminister" in der Regierung des Körpers. Die Geschichte der Erforschung des Gehörs macht deutlich, daß das Ohr, der Innenminister, jahrhundertelang nicht nur dem Außenminister untergeordnet war, sondern allein mit dessen Mitteln, also mit den Kenntnissen und Erfahrungen eines anderen Ressorts "betrachtet" wurde. Wirkliche Erkenntnisse über die Funktion des Gehörs konnten sich daraus - beinahe zwangsläufig - nicht ergeben.
Ich halte es für unzutreffend und irreführend, ein Sinnesorgan des Menschen wichtiger zu nennen als das andere. Eine Hierarchisierung der Sinne, auch eine "positive" Mystifizierung des Ohrs, wie sie in diesen Jahren geschieht, scheint mir nicht zu dem beizutragen, was derzeit Not tut: Es tut Not, den Zusammenhang und die Gleichwertigkeit aller unserer "Wahrnehmungs-Instrumente" in das Bewußtsein zu heben. Es tut Not, erkennbar werden zu lassen, daß das Ohr "sieht", der Mund "riecht", die Haut "hört", die "Augen" fühlen - und daß keines dieser Organe weniger wichtig ist als das andere. Daß folglich auch keine Schädigung eines dieser Organe weniger ungebührlich sein kann als die Schädigung eines anderen. Daß schließlich "Lärm" eine ebensogroße physische und psychische Bedrohung sein kann wie grelles Licht für die Augen, Spritzmittel in Speisen, Säuren auf der Haut oder giftige Gase in der Nase.
Die Industrialisierung der Welt hat unser Hören (Sehen, Riechen, Schmecken, Tasten) verändert. Und mit der Veränderung des Hörens (Sehens, Riechens, Schmeckens, Tastens) hat sich auch die Methode verändert, die Welt wahrzunehmen. Hören, Sehen, Riechen, Schmecken, Tasten sind produktive, nicht nur rezeptive Vorgänge. Sie verändern die Welt und die veränderte Welt veränderte sie. 

DIE PHYLOGENESE

Der Mensch kommt mit Ohren zur Welt - das ist gewiß! Und es ist gewiß sowohl in der Phylogenese als auch in der Ontogenese. Die Evolutionsgeschichte kennt kein Säugetier ohne Gehör. Die Gehörknöchelchen des erweiterten Mittelohrs gelten paläontologisch sogar als Indiz eines Säugerfundes. Milchdrüsen sind ja gemeinhin aus Fleisch.
Die Paläontologie sagt, daß der erste Mensch vor etwa sechs Millionen Jahren entstand. Das Gehör ist älter. Die Vetebraten, jene vor geschätzten 500 Millionen Jahren im Wasser auftauchenden Urwirbeltiere, von denen wir allesamt abstammen sollen, verfügten neben dem Seitenliniensystem bereits über ein Innenohr, das sich der Lehrmeinung zufolge durch Einrollen eines Teils der Seitenlinie entwickelt hat.
Die Dreiteilung des Ohres in Außenohr, Mittelohr und Innenohr wurde mit dem Wechsel vom Wasser auf das Land nötig: Die Flüssigkeit, die einstmals das Innenohr von außen umspülte, mußte nun als körpereigene Flüssigkeit entwickelt und vor dem Austrocknen bewahrt werden. Es galt zudem, ein Handicap gegenüber den wirbellosen Landbewohnern auszugleichen. Das auf Wasser-Wellenlängen ausgerichtete Gehör der Wirbeltiere nahm nur etwa ein Tausendstel aller Geräusche war, die auf dem Land zu hören waren. Als System der Frequenzumwandlung von Luft- auf Wasser-Wellenlängen entstand deshalb vor rund 350 Millionen Jahren das einfache Mittelohr.
Weitere 150 Millionen Jahre hat es dieser Zeitrechnung zufolge gedauert, bis sich aus dem einfachen Mittelohr jenes empfindsame Instrument entwickelte, über das alle Säugetiere verfügen: Durch Reduktion und Abspaltung eines nicht mehr benötigten Kiefergelenkteils entstanden die Gehörknöchelchen Hammer, Amboß und Steigbügel, die zunächst frei in der Mittelohrhöhle vibrierten, bis sie - durch Bindegwebe verbunden - zu jenem Übertragungssystem gerieten, das uns heutige Menschen ebenso ziert wie den "Australopithecus Afarensis", dessen Überreste man mit einem Alter von 4,5 Millionen Jahren datiert - und somit als den ältesten Menschenfund.
Die Fundstücke seines Schädels gaben Anlaß zu der Vermutung, daß sein Gehirn ein Volumen von etwa 450 Kubikzentimetern besaß. Dem heutigen Menschen wird eine Gehirnfülle von durchschnittlich 1500 Kubikzentimetern attestiert. Das ist mehr als das Dreifache.
Da die Interpretation der akustischen Vorgänge über das Gehirn vonstatten geht, liegt die Vermutung nahe, daß sich im Laufe der Phylogenese nicht nur die akustische Erscheinung der Welt verändert hat, sondern auch die Art ihrer Wahrnehmung. Daß dieser Vorgang beendet wäre, scheint unwahrscheinlich.
Das Hören ist ein Prozeß der Weltwahrnehmung, der sich mit dem Wandel der akustischen Erscheinungen verändert. Die Wahrnehmung der akustischen Erscheinungen ihrerseits verändern sich mit dem Wandel des Hörens. Hier geht es dem Ohr nicht anders als den Meßinstrumenten der Physik, die der Mensch sich geschaffen hat, um seine Sinnesorgane zu ergänzen: Das Messen bestimmt das Meßbare; jeder menschliche Maßstab erschafft eine eigene Welt.
Es wäre eine umfassende Studie wert, die Auswirkungen des Wechsels der akustischen Umgebung auf die Befindlichkeit, auf Denken, Fühlen, Handeln des Menschen zu untersuchen. Murray Schafer, Vordenker einer "Akustischen Ökologie", wie sie derzeit in das Bewußtsein der Öffentlichkeit gerät, hat in seinem Buch "The Tuning of the World" eine ganze Reihe jener Geräuschproduzenten aufgelistet, die uns seit der technischen Revolution umgeben.
Seit Mitte des 18. Jahrhunderts gibt es Trambahnen, die sich auf gußeisernen Schienen, zunächst noch von Pferden gezogen, fortbewegen. Die Dampfmaschine - der Motor der Industrialisierung schlechthin - wurde in den achtziger Jahren des vorletzten Jahrhunderts eingeführt. Dampfschiffe gibt es seit 1781! Die Webmaschine - Gerhart Hauptmann hat von ihrem Lärm berichtet - kam 1785 auf die Welt. Die erste Dreschmaschine 1788.
Ein Beispiel aus unseren Tagen: Bei kalifornischen Gärtnern (und neuerdings auch bei deutschen) ist der Laubbesen durch ein Blasgerät ersetzt worden, das ohrenbetäubenden Lärm erzeugt. Das Gerät sorgt seit einigen Jahren für buchstäblichen Wirbel. Kinder, die im Garten oder auf der Straße spielen, flüchten ins Haus zu ihren Eltern; ruhebedürftige Erwachsene, die in ihren Gärten sitzen, ziehen sich in ihr Haus zurück, wenn der überdimensionale Fön zu tönen beginnt.
Die Markteinführung dieses Geräts ist nicht sonderlich erstaunlich. Sie ist symptomatisch für eine Gesellschaft, die einerseits den manuellen Vorgang des Laubfegens vermeiden will, andererseits aber den dadurch entstandenen Bewegungsverlust (und seine gesundheitlichen Folgen) mit eigens dafür entwickelten Sportformen auszugleichen versucht: Mit Sportformen, für die man wiederum eigens entwickelte Kleidung und Gerätschaft erwerben muß - will man sie "richtig" betreiben.
Darin zeigt sich die Beharrlichkeit eines ökonomischen und ökologischen Prinzips, das sich nicht selten über das natürliche Empfinden des Menschen (zunächst des Herstellers) hinwegsetzt. Daß ein buchstäblich ohren- und sinnenbetäubender Laubfön in ansonsten höchst umweltbewußten Staaten wie Kalifornien und Deutschland bis heute erlaubt ist, bestätigt zudem die Überbewertung des Auges und die Unterbewertung des Ohr. Es zeigt an, daß wir von einer Gleichwertigkeit unserer Sinnesorgane - und folglich von einer Gleichgewichtigkeit ihrer Belastungen - noch weit entfernt sind.
Die akustische Umgebung des Menschen, die Lautsphäre, hat sich in ihrer Lautstärke permanent höherentwickelt. Die Polizeisirenen amerikanischer und deutscher Großstädte bieten dafür einleuchtende Beispiele. Um noch gehört zu werden, mußten sie von Jahrzehnt zu Jahrzehnt ihre Lautstärke vergrößern. Der Grundton der Städte begann sie zu übertönen.
Hauptlieferant des "Lärms" sind Maschinen. Eine elektrische Bohrmaschine erreicht 110 dB (A), ein Propellerflugzeug 120 dB (A), ein industrieller Niethammer 130 dB (A), ein Düsenflugzeug 140, eine Rakete weit mehr. Doch diese Zahlen sagen wenig. Was bedeutet es, daß ein rauschender Fluß - in Dezibel A gemessen - ebenso "laut" sein kann wie eine verkehrsreiche Ausfallstraße?
Es ist erfreulich, daß ein Bewußtsein zu entstehen beginnt für die Eigentümlichkeit der akustischen Erscheinung dieser Welt - und für ihre Veränderbarkeit. Es ist mir ein Bedürfnis, mit diesem Vortrag und mit dem Projekt der "Schule des Hörens" (die sich als Sendereihe des Hessischen Rundfunks in den kommenden Jahren mit der akustischen Welt befassen wird) darauf hinzuweisen, daß nicht nur die sichtbare "Geschichte" der Menschen vergänglich ist - sondern auch die unsichtbare, und das heißt hier: die hörbare.
Für die sichtbare Geschichte haben wir Museen, Bücher und vielerlei andere Gelegenheiten der Dokumentation. Für die hörbare Geschichte, vor allem für die Alltagsgeschichte, findet sich Vergleichbares kaum. Hier geeignete Hör-Räume einzurichten und schließlich auch ein "Museum für die akustische Welt" zu gründen, in dem Landschaften, Tiere, Menschen, Maschinen, Gerätschaften mit ihren Klängen (und natürlich auch - denn es geht nicht um Ausschluß, sondern um Erweiterung - mit ihren Bildern) erhalten sind, das ist eine Aufgabe unserer heutigen Gesellschaft.
Es scheint mir von großer Notwendigkeit, Zeiten und Orte des Ruhigseins und des Hörenkönnens zu fordern und ihre Einrichtung öffentlich zu fördern. Keine neuen Kirchen sind damit gemeint, keine teuren Meditationstempel, keine esoterischen Entspannungssalons, keine Mind-Stations und keine akustischen Saunen.
Was benötigt wird, sind ideologiefreie, kostenfreie, politikfreie, verkaufsfreie, musikfreie Zonen. Es sind Orte ohne Gurus und ohne Verkäufer. Orte des wirklichen Ruhigwerdens, in denen wir Hinhören und Zuhören (lernen) können, auch und gerade auf jene Person, der wir oftmals am wenigsten vertrauen, obwohl sie uns am nächsten ist. Wie ist es bestellt mit dem Hören auf uns selbst? 

DIE ONTOGENESE

Das Ohr sei ontogenetisch und phylogenetisch das älteste Organ des Menschen, erfahren wir aus dem Buch "Der Klang des Lebens", das der Pariser Hals-Nasen-Ohren-Arzt und Professor für "Audio-Psycho-Phonologie", Alfred Tomatis, 1981 unter dem Titel "La Nuit utérine" vorlegte. Phylogenetisch gehe das Ohr sogar der Entstehung des Nervensystems voraus. Es sei deshalb nicht abwegig zu vermuten, daß das Gehör die Entwicklung des Nervensystems initiiere.
Das ist die weitreichendste Spekulation in der bisherigen Geschichte des Hörforschung: Das Hören oder das Horchen, wie Tomatis es nennt, als Impuls des Organismus, ein Nervensystem auszubilden, aufrecht zu gehen, sich voranzubewegen und sprechen zu lernen.
Die Forschung weist aus, daß die embryonale Entwicklung des Ohrs bereits am zweiundzwanzigsten Tag nach der Befruchtung beginnt. Das Innenohr, Cochlea und Cortisches Organ, werden im dritten Monat der Schwangerschaft morphologisch ausgebildet und erreichen in der zwanzigsten Woche ihre volle und endgültige Größe. Nach vier bis fünf Monaten, einige Forscher sagen sechs, ist das Gehör mit Innen-, Mittel- und Außenohr vollständig ausgebildet und funktionsfähig. Bis dahin hat das Ohr ontogenetisch auch alle Schritte der Phylogenese durchlaufen.
Für Alfred Tomatis - und nicht erst, wie sich zeigen wird, für ihn - besteht ein unlösbarer Zusammenhang zwischen dem Hören und dem Sprechen: Daß das Sprechen mit dem Hören in Verbindung steht, daß wir nur sprechen können, was wir hören - das zeigt jeder Umgang mit tauben Menschen: Die "Geschichte des Ohrs" ist deshalb auch die Geschichte der Taubheit. 

EXKURS BEETHOVEN

Mitten unter den Menschen zur Einsamkeit verdammt - so hat Ludwig van Beethoven den Zustand des tauben Menschen umschrieben. 1813 wird er auf seinem rechten Ohr taub. Auf dem linken behält er eine Resthörigkeit, die er mit verschiedenen Hörhilfen verstärkt. Für die Verstärkung des Luftschalls benutzt er - neben seinen berühmt gewordenen Hörrohren - Schallbehälter, die an den Klavieren montiert sind und unter die sich Beethoven setzt, um zu "hören".
Als er den Luftschall nicht mehr ausreichend empfängt, nutzt er den Körperschall, die Knochenleitung: Mit einem Holzstab, den er an seine Zähne hält, während das andere Ende den Resonanzboden seines Klaviers berührt, empfängt er die Schwingungen der Saiten. "Hören" - also mit den Ohren durch die Luft empfangen - kann er die Schwingung der Töne nicht mehr. Er fühlt sie. Und er imaginiert sie, er hört sie "innen".
Das "innere Hören" ist aus der Lebensgeschichte vieler Komponisten bekannt. In der Regel dient es der Ergänzung des äußeren oder benötigt das äußere Hören zu seiner Umsetzung. Beethoven hat das innere Hören bis zu seinem 30. Lebensjahr dergestalt erweitert, daß er mit seiner Hilfe komponieren konnte - wenn auch mit großem Leiden über den Verlust des äußeren Vergleichs.
Das Hören ist demnach kein Vorgang, der auf das Gehör beschränkt ist. Vielmehr scheint es, als sei das Gehör die spezifischste aller körperlichen Einrichtungen zur Wahrnehmung und Interpretation von Lauten, vornehmlich jener der zwischenmenschlichen Kommunikation. Die Aufnahme von Schwingungen indessen ist dem ganzen Körper möglich - in manchen Frequenzbereichen sogar nur ihm und nicht mehr oder noch nicht dem Ohr. 

Fortsetzungskapitel im Original:
Die Physiologie
Exkurs: Kunst
Exkurs: Physiognomik
Exkurs: Gerätetechnik
Die Neurologie
Epilog

© KARL KARST 1994


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QUELLEN-ANGABE BEI ZITIERUNG:

Karl Karst: Geschichte des Ohrs. Eine Chronologie.
In: Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland (Hg.):
Welt auf tönernen Füßen. Die Töne und das Hören.
Schriftenreihe Forum, Band 2, Göttingen: Steidl Verlag 1994 

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