Abdruck aus dem Buch "Wasserkultur Beiträge zur nachhaltigen Entwicklung der Stadt" (erschien Ende 1997)

3.3. "Wasser hören" - ein Feldexperiment


3.3.1. Aufbau des Feldexperiments


Die wissenschaftlichen Erfahrungen über die Praxis einer ökologischen Ästhetik sind nicht sehr ausgeprägt. Weder ist genaues darüber bekannt, wie eine ökologische Ästhetik aussehen kann, noch wie sie auf Menschen in einer großen Stadt wirkt. Das hier vorgestellte Feldexperiment sollte einerseits Aufschluß darüber geben, wie in Zusammenarbeit mit Künstlern ein Werk entstehen kann, das sich dem Anspruch ökologischer Ästhetik stellt, und andererseits Klarheit darüber verschaffen, wie und in welchem Umfang Passanten auf ein solches Werk im öffentlichen städtischen Raum reagieren.
Wie kann ein derartiges Feldexperiment aussehen? Zunächst ist es wichtig, die Rolle der Wissenschaftler und Künstler voneinander abzugrenzen. Der Wissenschaftler versteht sich als Initiator, als Akteur, der die Umsetzung verfolgt und die begleitende Forschung entwickelt und durchführt. In der Kompetenz der Künstler hingegen liegt die Entwicklung des konkreten Objektes. Gleichzeitig ist ein dauerhafter Dialog zwischen Künstlern und Wissenschaftlern über den gesamten Zeitraum sinnvoll. Um auch die Werkentstehung prozeßhaft zu gestalten, ist es außerdem von Vorteil, mit einer Gruppe von Künstlern zu arbeiten. Das ganze Feldexperiment wird so zu einem dialogischen Prozeß zwischen Wissenschaftlern und Künstlern und in seiner Umsetzung auch mit dem Publikum.
Das künstlerische Werk, das im Mittelpunkt des durchgeführten Feldexperiments stand, mußte sich in einem Umfeld behaupten, welches überwiegend von einer Waren- und Ereignisästhetik geprägt ist. Aus verschiedenen Gründen bot sich an, eine Klanginstallation zu entwickeln. Einerseits ergaben sich aus Ergebnissen verschiedener Klangforschungen (SCHAFER 1998) Hinweise darauf, daß Klänge Menschen auf andere Weise ansprechen als z.B. visuelle Reize, und man deshalb erwarten kann, in einer geschäftigen Stadt wie Frankfurt am Main vielleicht eher auf ein 'offenes Ohr' als auf ein 'offenes Auge' zu treffen. In einer akustisch ganz wesentlich durch 'Grundrauschen' (Lo-Fi) geprägten Umwelt sind ausgesuchte Klänge möglicherweise besonders auffallend.
Der andere Grund, den Hörsinn in den Mittelpunkt des Feldexperimentes zu rücken, liegt in einer räumlichen Konzeption, die sowohl das Hören als auch die Ökologie impliziert. Die Ökologie eines Raumes stellt ein bislang dominantes Konzept in Frage, das Räume als begrenzte Behälter betrachtet. Ökologische Prozesse bestimmen den Raum ständig neu, der Raum selbst besteht substantiell aus Relationen, die sich ständig verschieben. Der Klangraum legt im Gegensatz zum Sehraum ein dem entsprechendes Raumkonzept nahe.
Jeder kennt das Phänomen des Echos, dessen verblüffende Faszination darin begründet ist, daß sich der Schall von seiner Quelle weitgehend lösen kann, während das Bild dem Ort verhaftet bleibt (IPSEN 1995). Der Hörraum ist im Vergleich zum Sehraum in einem höheren Maße Geschehen. Der Bach fließt, sonst würde man ihn nicht hören. Den Hörraum begreift man am besten als Bewegung. Die Plastizität und Geschehensabhängigkeit des Hörraums führt zu einem Raumkonzept, das den euklidischen Raum (FRIEDMANN 1992, EDOGA 1993) hinter sich läßt; in den Vordergrund rücken Vernetzungen, Arenen unterschiedlichen Geschehens, wachsende und schrumpfende Raumschichten, von der jeweiligen Perspektive abhängige Raumgrenzen. Der akustische Raum hat zu dieser Raum-dynamik, zu einem ökologischen Raumverständnis durch die ihm eigene Offenheit eine weit größere Nähe, eine ausgeprägtere Homologie als der im Gegensatz dazu relativ geschlossene Sehraum.
Ein solches 'offenes' Raumkonzept, in dem der Raum im wesentlichen als Komplex von Relationen verstanden wird, ist aktuell Gegenstand der Erörterung sowohl in den Sozial-wissenschaften als auch in der Philosophie (LÄPPLE 1991, BAIER 1996). 

3.3.2. Prozeßhafte Werkentwicklung


Um die Absicht konkret werden zu lassen, für einen gemeinsam zu bestimmenden Ort in Frankfurt a. M. eine Klanginstallation zu entwickeln, wurden Klangkünstler, Klangökologen und Klangdesigner während einer Exkursion in die Sachlage eingeführt. Die Exkursion führte sowohl in ein wichtiges Wassereinzugsgebiet Frankfurts, den Vogelsberg, als auch an einen Ort städtischer Wasseraufbereitung und Verteilung.
Ein Stadtspaziergang, der einer ersten gruppeninternen Diskussion folgte, diente dazu, aus einer Vorauswahl städtischer Räume den tatsächlichen Ort der künstlerischen Aktion zu bestimmen: den Platz vor der Frankfurter Kleinmarkthalle am Liebfrauenberg.

(Abbildung 1+2: Lageplan und Bild)

Dieser Platz kann als transitorischer Raum charakterisiert werden. Die Ziele der Passanten liegen nicht auf, sondern jenseits des Platzes: die Markthalle, Geschäfte, Büros, Wohnungen, Parkplätze usf. Die Gestaltung des Platzes erschwert den Aufenthalt und ist relativ unattraktiv.
Bereits während des Ortstermins wurde die Installationskonzeption durch die Künstler entwickelt, die einen vorhandenen Laternenmast als Träger der Installation vorsah. Um diesen sollten spiralförmig PET-Flaschen - mit kleinen Autolautsprechern versehen - installiert werden. Die Installation bekam den Arbeitstitel "Klangspirale".
Die akustische Seite der Klanginstallation bestand aus "Wasserklängen", die die beteiligten Künstler nach ihrer Interpretation des Themas zusammenstellten. Während der Installation wurden jedoch nicht die einzelnen Wasserklänge abgespielt, sondern - als Ausdruck künstlerischer Gemeinsamkeit - die einzelnen Klangbeiträge überlagert. Diese Überlagerungen wurden während der Installation "live" durchgeführt.
Um die wissenschaftliche Untersuchung des Feldexperiments systematisch anzulegen, sind theoretische Vorstellungen darüber notwendig, wie ökologische Ästhetik in großen Städten wahrgenommen werden kann. Das gesellschaftliche Naturverhältnis selbst läßt sich nicht wahrnehmen, allerdings können Umgangsweisen mit der Natur und Zustände der Natur, die wir auf bestimmte Umgangsweisen zurückführen, festgestellt werden. Es sind vor allem drei Faktoren, die in den großen Städten eine ökologische Wahrnehmung, also eine Wahrnehmung der Indikatoren des gesellschaftlichen Naturverhältnisses, beeinflussen:
Erstens: Städte sind Orte der Wahrnehmungsfülle; die Sinne werden stark gereizt, oft überreizt. Simmel leitete daraus als städtische Charakterform die Blasiertheit ab, die er als Schutz vor dem Überschreiten der Reizschwelle ansah (SIMMEL 1984/1903). Es stellt sich so die Frage, ob sich gegen die Überfülle der Warenästhetik (HAUG 1973), der Ästhetik der vielen Ereignisse, ein ökologischer Wahrnehmungsraum entfalten kann.
Zweitens: Städte sind Orte des instrumentellen Verhaltens; auch hierauf hat bereits Simmel hingewiesen. Indem Städte die Orte des Geldes sind, bildet sich ein instrumenteller Handlungstyp heraus, der ein Verweilen um des Verweilens willen nicht kennt. Darauf orientiert, möglichst viele Mittel für beliebige Zwecke anzusammeln, wird das zweckrationale Handeln zum herrschenden Muster. (SIMMEL 1989/1907) Eine Wahrnehmung des Naturverhältnisses mit 'Sinn und Verstand' sprengt oder stört den alltäglichen Instrumentalismus. Ein ökologischer Wahrnehmungsraum kann in dieser Konfiguration als Störraum empfunden werden.
Drittens: Die moderne Stadt ist horizontal und vertikal zoniert; die einzelnen Funktionen haben jeweils eigene abgetrennte Orte. Die Versorgung und die Entsorgung der Stadt ist durch ein komplexes technisches und bürokratisch organisiertes System verborgen. Im wörtlichen Sinn durchzieht die Stadt eine zweite unsichtbare Stadt. Damit entzieht sich das gesellschaftliche Naturverhältnis zunehmend nicht nur den Sinnen, sondern auch dem Verstand.
Alle drei Aspekte der modernen Stadt verringern zunächst die Chance, daß ökologische Wahrnehmungsräume in der Stadt auf eine große Aufmerksamkeit stoßen. Dieser Gegenstand der Wahrnehmung hat nicht nur eine große Konkurrenz, es mangelt ihm auch an Wahrnehmungskonventionen. 'Natur' wahrzunehmen, ist nicht gelernt und dem Habitus des Großstädters eher fremd. Doch kann gerade in dieser Fremdheit auch eine Chance liegen. So wie der Spaziergang im Park, die Wanderung in den Bergen, der Urlaub am Meer Ausdruck des Verlangens nach Natur sind, ist es denkbar, daß ein ökologischer Wahrnehmungsraum, wenn er sich hinlänglich von den konkurrierenden Ästhetiken unterscheidet, als sinnliche Anregung gesucht und erlebt wird. 

3.3.3. Reaktionen auf die Klanginstallation


Unsere Intervention auf dem Platz vor der Kleinmarkthalle hatte das Ziel, die atmosphäri-sche Ästhetik des Ortes zu ändern, so daß ein ökologischer Wahrnehmungsraum entsteht. Es war der Versuch, die 'klangliche Materialität' des Raumes dahingehend zu verändern, daß - die Gestimmtheit der Passanten berücksichtigend - das Naturverhältnis und nicht die Warenästhetik in den Mittelpunkt rückt.
Als theoretischen Begriff für die unterschiedlichen Indikatoren, die auf eine Wahrnehmung der Installation verweisen, bietet sich der Begriff der Geste an. In und mit der Geste tritt die Wahrnehmung mit unbestimmten oder bestimmten Kommunikationspartnern in Kontakt. "Die Gesten sind Bewegungen des Körpers, die eine Intention ausdrücken" (FLUSSER 1993, S. 7). Flusser verweist darauf, daß sich in den Gesten, im Gebärdenspiel eine Gestimmtheit Ausdruck verleiht.
Wenn Atmosphären (BÖHME 1995) das Gemeinsame des Ausdrucks der Dinge und des Eindrucks der Wahrnehmung sind, so ist Gestimmtheit das psychische Pendant, das durch Gesten kommuniziert wird.
Um die Hypothese empirisch zugänglich zu machen, daß mit der Klanginstallation die Atmosphäre des Raumes verändert wird und diese Veränderung ein gestisches Pendant beim Passanten erzeugt, beobachteten wir die Bewegungsabläufe der Menschen auf dem Platz an zwei Tagen mit Klanginstallation und - um einen Vergleich ziehen zu können - an zwei Tagen ohne Klanginstallation. Es war zu vermuten, daß sich die Bewegungsabläufe in den Zeitabschnitten mit bzw. ohne Klanginstallation unterscheiden. Diese ungerichtete Hypothese ist durch spezifische Beobachtungshypothesen präzisiert worden:
Die Aufmerksamkeit schlägt sich in einer Veränderung des Bewegungsverlaufs nieder. Ein linearer Bewegungsverlauf, bei dem die Bewegung über den Platz möglichst gradlinig (ohne wesentliche Abweichungen von der direkten Lauflinie) ist, läßt darauf schließen, daß keine ausgeprägte Wahrnehmung der Installation stattfindet. Bei einem nicht linearen Bewegungsablauf dagegen wird der Wahrnehmungsraum unbewußt erschlossen.
Die Aufmerksamkeit schlägt sich in der Häufung von Aufenthalten nieder. Der Platz wird bei herkömmlicher Situation mit mehr oder weniger häufigen Aufenthalten durchquert. Eine systematische Häufung der Aufenthalte während der Klanginstallation ist auf eine aktivierte ästhetische Wahrnehmung zurückzuführen.
Aus Bewegungen des Körpers, die in Zusammenhang mit der Klanginstallation stehen (Umwenden, Stehenbleiben, Annähern) kann darauf geschlossen werden, daß die ästhetische Situation des Raumes identifiziert und interpretiert werden soll. Die Bewegungen können unterschiedliche Graden der Intensität (von der Identifikation bis zur Exploration) haben. Solche 'Hinwendungen' sind auf die Klanginstallation zurückzuführen.
Die Veränderung der durchschnittlichen Dauer einer Platzüberquerung ist ein Indikator für die erzielte Aufmerksamkeit. Jede systematische Verlängerung des Aufenthaltes auf dem Platz ist auf eine mehr oder weniger bewußte ästhetische Wahrnehmungstätigkeit zurückzuführen. Dabei ist bei einer gewissen Fremdheit Neugierde zu erwarten, bei übermäßiger Fremdheit jedoch mit Abwehrreaktionen zu rechnen. (BERLYNE 1974).
Wie verändern sich die Bewegungsabläufe auf dem Platz mit und ohne Klanginstallation? Gibt es keine Installation auf dem Platz, sind 83 v.H. aller Bewegungen auf dem Platz linear. Während der Klanginstallation bewegten sich lediglich 72 v.H. in einer linearen Lauflinie. Dieser Unterschied ist statistisch signifikant und weist in Richtung der Beobachtungshypothese. Gleichzeitig zeigt dieser Indikator auch, daß die Klanginstallation lediglich bei ca. zehn Prozent der Passanten eine solche Aufmerksamkeit erregte, daß sich ihre Bewegungsführung (unbewußte Erschließung des Wahrnehmungsraumes) veränderte.

(Tabelle: Linearität)

Bewegungslinie Kontrolluntersuchung Hauptuntersuchung
linear, absolut (Prozent) 3393 (82,5 v.H.) 3017 (71,6 v.H.)
nicht linear, absolut (Prozent) 721 (17,5 v.H.) 1198 (28,4 v.H.)
gesamt, absolut 4114 4215
Quelle: eigene Zusammenstellung nach Auswertung

Ähnliche Ergebnisse erhält man bei der Betrachtung der Aufenthaltshäufigkeit. Die durch-schnittliche Zeitdauer der Platznutzung beträgt bei der Kontrolluntersuchung 23,9 Sekun-den. An den Tagen mit Klanginstallation erhöht sich diese Zeitspanne auf 30,2 Sekunden. Die Differenz von ca. 6 Sekunden entspricht einer Verlängerung des Aufenthaltes um 26 v.H. Die einfache Varianzanalyse weist die Differenz als signifikant aus.

(Tabelle: Aufenthalt)

Durchgangsart Kontrolluntersuchung Hauptuntersuchung
ohne Aufenthalt, absolut (Prozent) 3159 (76,8 v.H.) 2842 (67,4 v.H)
mit Aufenthalt, absolut (Prozent) 930 (22,6 v.H.) 1256 (29,8 v.H.)
Daueraufenthalt, absolut (Prozent) 26 (0,6 v.H.) 60 (1,4 v.H.)
in Interview, absolut 0 (0 v.H.) 59 (1,4 v.H.)
gesamt, absolut 4114 4215
Quelle: eigene Zusammenstellung nach Auswertung

Ausgeprägtere Werte erhält man, wenn Bewegungen des Körpers (Gesten) der Passanten analysiert werden. Aus Bewegungen des Kopfes, des Körpers oder weiteren Gesten z.B. mit der Hand kann geschlossen werden, daß die Klanginstallation Reaktionen hervorruft. Diese Indikatoren können nur während der Installation beobachtet werden.
Knapp die Hälfte aller Passanten zeigt derartige Reaktionen. Ein Teil dieser Reaktionen sind jedoch nicht eindeutig der Installation zuzuschreiben; es könnte genauso gut der Fall gewesen sein, daß ein Bekannter entdeckt wurde. Diese Reaktionen wurden diffus genannt. Definitiv auf die Installation bezogene Reaktionen wurden unterschieden nach 1. Anschauen, 2. Anschauen und stehenbleiben und 3. Explorieren. Derartig eindeutige Reaktionen wurden bei etwas mehr als einem Drittel aller untersuchten Personen festgestellt. 

3.3.4. Die Konstellation eines ökologischen Wahrnehmungsraums


Welche Aussagen lassen sich aus den gemachten Beobachtungen extrahieren? Die Indika-toren, die sich auf allgemeine Bewegungsabläufe (Lauflinie, Aufenthalt) beziehen, werden durch die Installation nur in geringem Umfang beeinflußt. Der Indikator Zeitdauer der Platzüberquerung weist jedoch bereits darauf hin, daß die Klanginstallation bei einer nen-nenswerten Anzahl der Passanten zu Reaktionen führte. Die Beobachtung der Gesten und Körperbewegungen während der Klanginstallation macht letztlich deutlich, daß man bei etwa der Hälfte der Passanten Reaktionen feststellen kann; mehr als ein Drittel davon haben eindeutig auf die ästhetische Situation reagiert.
Die Bedingungen der Wahrnehmung ökologischer Ästhetik müssen jedoch noch näher bestimmt werden. Auf der Grundlage unserer Untersuchung zeichnen sich drei dieser Bedingungen ab.
Erstens: Die Wirksamkeit ästhetischer Interventionen ist um so größer, je weniger zielgerichtet und instrumentell die Motivation der Passanten ist.
Diese These wurde auf der Grundlage von zwei Beobachtungen entwickelt. Zum einen wenden sich ältere Menschen der Klanginstallation eher zu als alle anderen; 22 v.H. der älteren Menschen bleiben stehen und sehen sich um, nur 10 v.H. der Jüngeren. Das Alter bedeutet in unserer Gesellschaft eine relative Freisetzung von instrumentellen Handlungsorientierungen. Die zweite Beobachtung ist, daß Passanten, die keine Ziele auf dem Platz selbst haben, also weder den Markt anstreben noch in den ebenfalls auf dem Platz befindlichen Kiosk wollen, sich eher wahrnehmend verhalten. Es ist der Flaneur, der seine Sinne auf die Ästhetik des Städtischen richtet.
Zweitens: Die Wirksamkeit ästhetischer Interventionen ist höher, wenn sich der Einzelne in einer kommunikativen Situation befindet.
Diese These gewinnen wir aus der Beobachtung, daß die Wahrscheinlichkeit, nicht auf die Klanginstallation zu reagieren, abnimmt, je größer die Gruppe ist, in der sich der Einzelne befindet. Es scheint so, daß in einer Gruppe einer den oder die anderen darauf hinweist, daß 'etwas los ist' und damit die Aufmerksamkeit der ganzen Gruppe auf die ästhetische Situation gerichtet wird. Wahrnehmung ist ein kommunikativer Prozeß.
Drittens: Eine dritte Bedingung ergibt sich aus der räumlichen Nähe bzw. akustischen Nähe zur ästhetischen Situation. Nicht jeder Punkt im Raum eröffnet die gleiche Chance für Wahrnehmungen. Je mehr der Einzelne in seiner räumlichen Position dem Ereignis ausgesetzt ist, desto größer wird die Wirksamkeit der ästhetischen Wahrnehmung und Intervention.
In dieser dritten These wird der Raum als Theater mit Bühne und Zuschauerraum verstanden und die Position des Einzelnen im Raum berücksichtigt. Im vorliegenden Fall gibt es eine Seite des Platzes, die für visuelle und akustische Wahrnehmungen ungünstig ist. Der Effekt ist beachtlich. In der ungünstigen Position zeigen 77 v.H. keine Reaktion, in der günstigeren nur 41 v.H.
Wir können nun eine recht klare Schlußfolgerung ziehen. Der Versuch, einen urban-ökologischen Wahrnehmungsraum zu schaffen, ist offensichtlich nicht leicht. Die Mehr-heit der Benutzer eines Platzes zeigt zumindest keine Reaktionen. Auf der anderen Seite zeigt sich, daß wir je nach Beobachtungsindikator bei einem guten Drittel der Platzbenutzer mit einer Wahrnehmungsreaktion rechnen können. Freilich wissen wir damit weder, ob es Wahrnehmungen ohne Bewegungsreaktion gibt, noch wie nachhaltig eine Wahrnehmung ist, auch wenn eine unmittelbare Reaktion zu beobachten war. Der komplizierte Weg, der die Wahrnehmung mit individuellen Bedeutungen verbindet und von dort eine Brücke zu neuen Verhaltenspotentialen schlägt, bleibt hier notgedrungen offen. Die Ausgangskonstellation einer urban-ökologischen Ästhetik ist dagegen in Bezug auf räumliche und soziale Bedingungen nunmehr klarer umrissen.
Die Entwicklung einer ökologischen Ästhetik ist eine wichtige Voraussetzung dafür, daß der Umgang mit der Naturseite der Stadt zu einem alltäglichen Thema in der Stadt wird. Mögliche andere Wege, die Naturseite der Stadt zu thematisieren und einen nachhaltigen städtischen Naturumgang zu initiieren, werden im nächsten Kapitel aufgezeigt. 

Literatur:


Baier, F. X.: Der Raum. Köln 1996
Ballhausen, W. / Schittenhelm, K.: Zeitgenössische Kunst im städtischen Raum. Empirische Fallstudien zu ausgewählten Skulpturenprojekten in Berlin. (= Berlinforschung Bd. 24.) Berlin 1991
Berlyne, D.E.: Konflikt, Erregung, Neugier. Zur Psychologie der kognitiven Motivation. Stuttgart 1974
Böhme, G.: Atmosphäre. Essays zur neuen Ästhetik. Frankfurt 1995
Edoga, M.: Impulsreferat. In: Die aufgeräumte Welt. Raumbilder und Raumkonzepte im Zeitalter globaler Marktwirtschaft (= Loccumer Protokolle 74/92) Rehburg-Loccum1993
Flusser, V.: Gesten. Versuch einer Phänomenologie. Bensheim 1993
Friedmann, J.: Toward a Non-Euclidian Mode of Planning. In: APA-Journal, S. 482 ff., 1993
Haug, W.: Kritik der Warenästhetik. Frankfurt a. M. 1973
Ipsen, D. u.a. (Hrsg.): KlangWege. Kassel und Basel 1995
Ipsen, D.: Bilder in der Stadt. Kunst und Stadtraum im öffentlichen Streit. Notizen zur documenta in Kassel. In: Häußermann, H./ Siebel, W. (Hrsg.): Festivalisierung der Stadtpolitik. (= Leviathan Sonderheft 13/93)
Läpple, D.: Essay über den Raum. Für ein gesellschaftswissenschaftliches Raumkonzept. In: Häußermann, H. u.a (Hrsg.): Stadt und Raum. Soziologische Analysen. Pfaffenweiler 1991
Schafer, Murray: Klang und Krach. Eine Kulturgeschichte des Hörens. Frankfurt 1988
Simmel, G.: Brücke und Tor. Die Großstädte und das Geistesleben. In: Schmalz, K. (Hrsg.): Stadt und Gesellschaft. Ein Arbeits- und Grundlagenwerk. S. 237-245. München 1983
Simmel, G.: Philosophie des Geldes. Gesamtausgabe Bd. 6. Hrsg von Frisby D.P./Köhnke K. Ch. Frankfurt a.M. 1989 (1907) 

Kontaktadresse:

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Das Buch "KLANGWEGE" (Hg.: Ipsen, D., Werner, H. U., Winkler J.), erschienen im Akroame Verlag Basel, ist vergriffen.
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